Kieler Schatten

Roman

313 S., Softcover, eBook, Gmeiner Verlag

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Kay Jacobs: Kieler Schatten

Leseprobe

© 2015 - Gmeiner Verlag GmbH

 

 

 

»Was heißt ›verschwunden‹?«

»Also ... nicht mehr da.«

»Sie veralbern mich gerade.«

»Nein.«

»Er ist weg?«

»Ja. Verschwunden eben.«

Es war kurz vor Mittag und die Sonne begann, das Büro zu erobern. Josef Rosenbaum tupfte den Schweiß von seiner Stirn und setzte sich auf den Stuhl an seinem Schreibtisch. Eigentlich sank er eher und unter ihm befand sich zufällig der Stuhl, sodass es aussah, als setzte er sich. Nur ist ›sich setzen‹ eine finale Handlung, die zum Ziel hat, danach zu sitzen, und Rosenbaum verfolgte kein Ziel mit der Aktion, ihm war nicht einmal wirklich bewusst, dass sich unter ihm ein Stuhl befand. Es war wie bei einem Schlachtschiff, das nach einem schweren Treffer sank und auf einer Sandbank aufsetzte, bevor es vollständig unterging. Und genauso verdutzt, wie man vermutlich auf der Brücke des Schiffes feststellte, dass man nicht mehr weitersank, herrschte auch in Rosenbaums Amtsstube eine verdutzte Stille, nur dass sich niemand über den Stuhl wunderte, sondern über die Nachricht des Assistenten: ›Harms ist verschwunden.‹

 

 

I

 

Wenige Tage zuvor war die Welt noch in Ordnung gewesen, zwar nicht so, wie sie sein sollte, gar nicht, aber immerhin so, dass man sie sich erklären konnte, jedenfalls so weit man sie sich erklären wollte. Hektisches Nähmaschinenrasen hatte sich langsam in rhythmisches Rattern verwandelt. Das ließ sich erklären. Die Nähmaschine war eine Dampflok, eine preußische S3, die den Schnellzug von Berlin nach Kiel anführte, und das Rattern hatte kurz vor dem Ziel begonnen. Rosenbaum saß in der zweiten Klasse und beobachtete, wie sich vor dem Fenster die geordnete Silhouette einer norddeutschen Provinzstadt aufbaute.

Noch nie war er hier gewesen, am Rande des Reiches, und nichts hätte ihn jemals hierher geführt, wenn der Kaiser diesem Ort nicht durch Ernennung zum Reichskriegshafen eine zuvor ungeahnte Bedeutung verliehen hätte. Seither stattete der Kaiser seiner geliebten Hochseeflotte mehrmals im Jahr einen militärischen Besuch ab und verbrachte bei dieser Gelegenheit, wie zufällig, ein paar Tage auf einer der hier beheimateten kaiserlichen Jachten. Die Zufälligkeiten funktionierten übrigens auch umgekehrt ganz gut, wenn nämlich der Kaiser seine alljährliche Seereise mit der Motorjacht ›Hohenzollern‹ unternahm und bei dieser Gelegenheit die Flotte inspizierte. Es ergaben sich auch immer wieder andere Zufälligkeiten, wie die jährlich stattfindende Kieler Woche, die der Kaiser regelmäßig eröffnen musste, oder die jährlichen Geburtstagsfeiern seines in Kiel lebenden Bruders, des Prinzen Heinrich, und seines ebenfalls in Kiel lebenden Sohnes, des Prinzen Adalbert, oder die Einweihung wichtiger Bauten, wie des Kaiser-Wilhelm-Kanals, oder die Taufe eines weiteren riesigen Schlachtschiffs oder die alljährliche Vereidigung der neuen Seekadetten. Ach, es gab so viele Zufälle.

Dabei war es aber auch eine strategisch naheliegende Entscheidung gewesen, den baltischen Stützpunkt der deutschen Kriegsmarine von Danzig nach Kiel zu verlegen. In Kiel – als Heimathafen – war die Flotte gut geschützt vor Angriffen feindlicher Verbände, die zunächst durch die Meeresstraßen der dänischen Inseln, den Großen Belt und den Langelandbelt hätten fahren müssen und dabei hervorragende Ziele für deutsche Verteidigungsstellungen abgegeben hätten. Allenfalls die ruhmreiche baltische Flotte der russischen Marine hätte dem Kieler Hafen gefährlich werden können. Doch der Großteil ihrer Geschwader war ein paar Jahre zuvor während des russisch-japanischen Krieges im Meer und der Rest in Bedeutungslosigkeit versunken. Strategisch ausschlaggebend aber war letzten Endes, dass sich die in Kiel stationierten Einheiten der deutschen Hochseeflotte seit dem Bau des Kaiser-Wilhelm-Kanals innerhalb kürzester Zeit mit den Geschwadern aus Wilhelmshafen vereinigen und freie Fahrt auf die Weltmeere besaßen, dorthin, wo immer das Reich sie brauchte. Und seit der Kaiser es für angebracht hielt, dass Deutschland am Tisch der Weltmächte Platz nahm, wurden sie überall gebraucht, sogar in Friedenszeiten. Sie halfen, den Boxeraufstand in China niederzuschlagen, beobachteten die Burenkriege in Südafrika, blockierten die Küste Venezuelas, setzten nach Agadir über, nahmen die deutschen Interessen im Mittelmeer wahr und schützten natürlich die Besitzungen in Afrika und in der Südsee.

So wurde also ein unbedeutender Marinestützpunkt an der Kieler Förde zum zweiten Reichskriegshafen. Und ein verschlafenes Provinz-städtchen wuchs urplötzlich zu einer bedeutenden Großstadt heran, das glaubten jedenfalls die Kieler. Wie dem auch sei, die Stadt war in den letzten Jahrzehnten rasant gewachsen, während ihre Verwaltungs-strukturen kaum mithalten konnten, und Rosenbaums Aufgabe bestand darin, hier ein wenig zu unterstützen.

 

Der Bahnhof näherte sich. Der Lokführer entkoppelte die Antriebswelle und reduzierte Wasserzufuhr sowie Befeuerung, um den neuen Bahnhof nicht mehr als nötig mit Dampf und Rauch zu belasten.

Durch das Fenster konnte Rosenbaum gleich neben den Gleisen einen Friedhof erkennen, ein außerordentlich geschmackloser Willkommens- gruß, wie er fand. Er schaute zur anderen Seite hinaus. Die Südspitze des Hafens kam in Sicht, eine vor 10.000 Jahren von Gletschern gerissene Furche. Hörn sagte man in Kiel dazu.

An der Stirnseite der Hörn lag ein Frachtsegler, aus dem gerade eine Ladung Schweine angelandet wurde. Das Vieh trottete von mobilen Zäunen geleitet über einen mit Stroh bedeckten Weg, vorbei an einem kleinen Backsteingebäude, ein Zollhäuschen oder vielleicht eine Quarantänestation, unter einer nahezu 200 Meter langen, offensichtlich noch ganz neuen Stahlbogenbrücke hindurch, direkt in den gleich dahinter gelegenen Schlachthof.

Eigentlich praktisch, wenn so ein Schlachthof nur nicht so bestialisch stinken würde, dachte Rosenbaum und schloss das Fenster des Abteils. Es war ein warmer Frühsommertag, ein Tag, an dem in allen Fabrikhallen und allen Schlachthöfen Fenster und Tore aufgerissen wurden, um der erdrückenden Allianz aus Sommerhitze, Schweiß-geräten und Dampfmaschinenabwärme einen frischen Luftzug entgegenzusetzen. In Kiel gab es viel Wind, regelmäßig aus Westen. Und das störte dann auch nicht weiter, weil der Gestank vom Schlachthof bei Westwind von der gutbürgerlichen Innenstadt weg hin zum Arbeiterviertel Gaarden driftete. Heute war es anders, Ostwind. Kiel wollte Rosenbaum nicht haben. Und Rosenbaum Kiel nicht.

Das bahnhofseitige Ufer war übersät mit Haufwerken von Kohle, die vermutlich zur Befeuerung der unglaublich vielen Kriegsschiffe benötigt wurde. Dazwischen lagen Stapel von Holz aufgeschichtet, wahrschein- lich aus Schweden oder Dänemark für deutsche Öfen und Baustellen. Am Kai hatten Frachtsegler angelegt, einer wurde gerade durch Schauerleute unter großen körperlichen Mühen von schweren Holzkisten aus seinem Bauch entbunden.

Das gegenüberliegende Ufer wurde Ostufer genannt und diente als Werftgelände. Rosenbaum konnte Docks, Hellinge und Hallen sehen und auf einer Helling ein teilweise beplanktes, liegendes, hoffentlich schlafendes, stählernes Ungeheuer. Doch alles wurde überragt von einem einarmigen Kraken aus Stahl, mächtig und stark.

Holz, Kohle und Stahlpanzerung. Darum sollte sich also in den nächsten Jahren das Leben für Rosenbaum drehen.

 

›Kriminalobersekretär Rosenbaum‹ stand auf dem Schild. Das war er, obwohl es diesen Dienstgrad offiziell gar nicht gab. Es gab nur Kriminalassistenten, -sekretäre, -kommissare, -inspektoren und -direk-toren, eine hungernde Armseligkeit angesichts der in Prunk und Glorie verliebten Epoche und der bei anderen Beamtenlaufbahnen magenverstimmenden Fülle illustrer Titel. Doch die Kriminalpolizei hatte sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu etablieren und von der Schutzpolizei zu emanzipieren begonnen, und so gab es 1909 eben noch keinen Bedarf für allzu viele Titel.

Aber Kriminalobersekretär, was war das? Es war ein Zeichen der Modernisierung, des sozialen Fortschritts, die Bitte um Geduld an einige, ganz wenige, besonders fähige Beamte. Es war das Eingeständnis von Ungleichheit und Ungerechtigkeit und Antisemitismus und zugleich das Versprechen, dass das bald überwunden sein würde. Rosenbaum war Jude und Juden wurden im deutschen Kaiserreich nicht zu Kommissaren ernannt. Nicht dass das irgendwo ausdrücklich festgeschrieben war, nein, aber Voraussetzung für die Beförderung zum Kriminalkommissar war ein siebenjähriger Dienst als Offizier im Deutschen Heer oder in der Kaiserlichen Marine. Und der Gedanke, ein Jude könnte im Feld, den Tod vor Augen, einem Christen den Sturmbefehl erteilen, war vollkommen undenkbar, genauso undenkbar wie die Vorstellung, ein Jude würde als Richter einem Christen den Eid auf die Bibel abnehmen. Ein Jude wurde im Kaiserreich nicht Offizier, nicht Richter und nicht Kommissar, sondern notgedrungen Schauspieler, Professor, Arzt, Anwalt, Bankier, Kaufmann oder Politiker.

Aber wenn ausnahmsweise jemand hätte sein sollen, was er nicht sein konnte, dann wurde für ihn ein neuer Titel geschaffen, der dem, was nicht sein konnte, aber sein sollte, möglichst nahe kam. Für Rosenbaum und vielleicht sechs oder acht weitere Juden im Kriminaldienst der preußischen Provinzen war das nun eben der Kriminalobersekretär. Gerecht war das nach wie vor nicht, denn auf dieser Stufe der Karriereleiter eines deutschen Beamten war für Juden endgültig Schluss und selbst dort kam nur an, wer protegiert wurde. Aber immerhin, es war ein erster Schritt und versöhnte Rosenbaum mit seiner Herkunft und der Gesellschaft.

Das Schild mit Rosenbaums Namen wurde ausgestiegenen Reisenden von einem jungen Mann entgegengehalten, rothaarig, nordisch, Mitte 20, mindestens 15 Zentimeter größer als Rosenbaum, mit einem Hokkaidokürbis als Kopf, Armen so dick wie Rosenbaums Oberschenkel und suchendem Blick. Rosenbaum hob die Hand mit einer unbeabsichtigt linkischen Bewegung, um sich zu melden und den Träger des Schildes zu grüßen. Der erste Auftritt in seinem neuen Wirkungs- kreis und vor einem Untergebenen misslang, Rosenbaum bewegte sich wie ein Kasper!

»Gooden Dach, Herr Obersekredär. Ick bin Kriminohlassistent Steff’n, Ihn’n ergebenst togedehlt.«

»Können Sie auch Deutsch?«

»Künd ick uck. Schall ick?«

»Bitte.«

»Hatten Sie eine angenehme Fahrt?«

»Danke, es ging.« Rosenbaum hätte seine Handbewegung souverän überspielen können. Es war nicht einmal sicher, dass Steff’n, der vermutlich Steffen hieß, sie überhaupt als solche wahrgenommen hatte, aber aus Ärger und, um sie zu kompensieren, gab sich Rosenbaum jetzt betont distanziert. Steffen entriss ihm sein ledernes Arztköffer- chen, das kaum mehr als Rasierzeug, die Nachtwäsche und vielleicht die Unterwäsche für den nächsten Tag fassen konnte.

»Haben Sie sonst noch Gepäck?«

»In Berlin.« Wenn es ging, reiste Rosenbaum ohne Gepäck. Nicht so sehr aus Bequemlichkeit, eher zur Vermeidung von Endgültigkeit. Dann fühlte es sich an, als unternähme er zunächst nur einen kurzen Ausflug, den er bei Gefallen verlängern könnte. »Kommt morgen nach.« Natürlich wusste er, dass es eine Illusion war; doch zumindest für einen Tag wollte er auf das Gefühl nicht verzichten.

»Ich hab noch einen Koffer in Berlin«, melodierte Steffen und es lag eine Art Swing in seiner Stimme, »da könnte man vielleicht einen Schlager draus machen.«

Sie spazierten durch die Bahnhofshalle, die Haupttreppe hinunter, durch das Eingangsportal, an wartenden Pferdedroschken, Kraftdroschken und Handkarren vorbei auf den wuseligen Bahnhofsvorplatz, wo Rosenbaum sich suchend umsah. Hinter ihnen der wuchtige Bahnhof, ganz neu, an der Fassade wurde noch gewerkt. Vor ihnen ein großstädtisch-mondäner, repräsentativ-wilhelminischer Pomp-und-Protz-Bau, das unvermeidliche Grandhotel in Bahnhofsnähe. Rechts der Hafen mit der Kaiserbrücke, einer Anlegebrücke für die kaiserlichen Jachten, damit der Monarch durch einen Seiteneingang des Bahnhofs, das Kaisertor, über die Kaisertreppe vom Sonderzug direkt auf seine Segeljacht ›Meteor‹ oder seine Motorjacht ›Hohenzollern‹ springen konnte. Links Großstadtgewirr mit vornehmen Bauten, Geschäften und Straßenbahnen. Der Platz war mit zwei kreisrunden, verschwenderisch bunten Blumenbeeten geschmückt, aus deren Mitte mehrere Palmen-stämme herausragten.

»Is ne Großstadt geworden«, strömte es aus Steffens geschwollener Brust.

»Mir wurde ›Marsens Hotel‹ empfohlen. Es soll ungefähr dort liegen.« Rosenbaum deutete in Richtung des Friedhofs, an dem er vor ein paar Minuten vorbeigefahren war.

»Das ist der Sankt-Jürgens-Friedhof. Kann ich nicht empfehlen. Wird ohnehin demnächst aufgelöst. Übrigens gibt es ›Marsens Hotel‹ schon jetzt nicht mehr. Es war alt, klein und schäbig. Willi Marsen, der Eigentümer, hat es abgerissen und an derselben Stelle durch das Hansa-Hotel ersetzt. Es ist dies hier.« Steffen wies auf das Grandhotel. »Marsen hatte wirklich Glück, dass der neue Bahnhof genau vis-à-vis gebaut wurde. Man munkelt, dass er nachgeholfen habe, aber das sind natürlich nur Gerüchte. Ein ehrbarer Kieler Kaufmann macht so etwas nicht. Hier haben wir Ihnen übrigens ein Zimmer reserviert, für eine Woche auf Staatskosten.«

»Ja, aber ... das Hotel soll sich 100 Meter südlich vom Bahnhof befinden.«

»Hundert Meter südlich vom alten Bahnhof, nehme ich an«, sagte Steffen, nachdem er ein wenig überlegt hatte. »Der wurde abgerissen, zu klein, jetzt wo wir Reichskriegshafen sind. Der neue wurde 100 Meter südlich gebaut, also hier.« Steffen zeigte auf das Hansa-Hotel. »Wer ›Marsens Hotel‹ empfohlen hat, dürfte mindestens zehn Jahre nicht mehr hier gewesen sein. Es hat sich in den letzten Jahren ja so viel verändert hier. Kiel ist inzwischen zu einer pulsierenden Großstadt ...«

»Auch gut«, grunzte Rosenbaum und steuerte auf das Hansa-Hotel zu, ein Grandhotel auf Staatskosten. »Sehr gut.« Aller Griesgram war dahin.

»Wieso sagen Sie eigentlich ›Groß-Schtadt‹?«, fragte Rosenbaum nach einer Weile. »Ich dachte, man s-tolpert hier über den s-pitzen S-tein.«

»Nö, so reden die in Hamburch. Wir sind hier nich so vörnehm.«

Fern der Heimat und unter Barbaren. Rosenbaum dachte an Lotte und die Kinder. Sie würden sich sicher amüsieren, wenn sie hörten, wie die Leute hier sprachen. Er hingegen war darauf angewiesen, die Sprache der Eingeborenen zu verstehen.

»Sorry. Verzeihen Sie bitte.« Ein Mann mit ausgeprägten Geheimrats-ecken, schwerem Handkoffer und dunkler Sonnenbrille stürmte aus der Eingangstür des Hotels, als diese ein Portier für Rosenbaum und Steffen geöffnet hatte. Ein Brite in Eile. Man erkannte sie am einfachsten daran, dass diese wolkenverwöhnten Menschen bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihre Sonnenbrillen aufsetzten. Vielleicht der wahre Grund für die vielen britischen Kolonien in Wüstengegenden.

Der Portier entschuldigte sich überschwänglich und zutiefst betrübt.

»Ist ja gut, ist doch nichts passiert«, versuchte Rosenbaum den Mann zu beschwichtigen, der sich aber erst wieder beruhigte, als er einen Groschen bekam.

Kurze Zeit später waren die Strapazen und Formalitäten des Anreisetages erledigt. Steffen hatte sich verabschiedet, damit Rosenbaum auspacken, na ja, sich jedenfalls ausruhen konnte. Er saß in seinem Zimmer am Rauchtisch vor dem Fenster, schaute hinaus auf den Bahnhof und den einarmigen Kraken am Ostufer und genoss eine Zigarre und – was er nie zugeben würde – ein wenig die Umstände, die um ihn gemacht wurden.

 

 

 

II

 

»Einen Moment noch.« Der Concierge wandte sich dem wartenden Hotelgast zu, gerade in dem Moment, als dieser seinen Zeigefinger hob und den Mund öffnen wollte, um auf seine Eile aufmerksam zu machen. Dann wandte er sich wieder ab.

»Bitte beeilen Sie sich, Concierge. Mein Zug geht gleich«, sagte der Gast mit leichtem englischen Akzent. Seit er bei seinem vorletzten Aufenthalt den Rezeptionstresen mangels sprachlichen Feinschliffs als ›Theke‹ bezeichnet hatte, wurde er nur noch nach Vorschrift behandelt. Früher oder später wurden die meisten Ausländer im Hansa-Hotel mangels sprachlichen Feinschliffs nur noch nach Vorschrift behandelt, jedenfalls die meisten Briten. Man war hier eben provinziell, sogar in einem Grand-Hotel, auch wenn der Portier Concierge hieß und vornehmer war als die meisten Gäste. Und man war hier hinter vorgehaltener Hand auch britenfeindlich. Dieser Aufenthalt, das stand für den Gast nun fest, würde sein letzter in diesem Hotel gewesen sein, und es würde auch kein Trinkgeld geben. Natürlich, irgendwie schien man ausgeliefert zu sein, wenn man sich das Wohlwollen der Bediensteten nicht erkauft hatte, für die Bourgeoisie zu jener Zeit einer der wenigen Nachteile des herrschenden Gesellschaftssystems. Man konnte sich erst im Nach-hinein rächen, eben durch Einbehalten des Trinkgeldes.

Gerade schien es, dass der Concierge sich endlich mit dem Gast befassen wollte, da rief er unvermittelt durch das Foyer »Monsieur Lavie! Jʼai un message pour vous!«, wedelte mit einem Zettel und übergab ihn einem vorbeihuschenden kleinen Mann mit Victor-Emanuel-Bart.

»So jetzt, mein Herr«, wandte er sich dem wartenden Gast zu, kurz bevor dieser den Mund öffnen wollte, um ihn anzubrüllen.

»Ich möchte abreisen.«

»Hatten Sie ...?«

»Ja, ich hatte einen angenehmen Aufenthalt und ich habe meine Abreise angekündigt. Da hinter der Theke liegt die Rechnung bereits, ich sehe sie sogar von hier.« Der Mann zeigte auf einen Umschlag mit seinem Namen darauf.

»Herr Ioon Infest?«, las der Concierge vor.

»John Invest, ja.«

Der Concierge öffnete den Umschlag, zog die Rechnung heraus und begann, die einzelnen Posten zu erklären, als Invest ihn mit der Bemerkung, das werde alles sicher korrekt sein, unterbrach und drei Zwanzig-Mark-Münzen auf den Tresen legte. Der Concierge schaute Invest an, sodass er ein paar Sekunden Gelegenheit hatte zu erklären, dass der Geldbetrag so stimme. Invest aber blieb stumm, bis der Concierge sagte, er müsse nach Wechselgeld sehen, und mit Rechnung und Münzen hinter einer Tür verschwand.

Invest bereute in diesem Moment, dass er seine Hotelrechnungen noch immer in bar beglich. Viele Geschäftsreisende taten das nicht mehr. Üblicherweise verschickten die Hotels ihre Rechnungen an die Arbeit-geber, wenn diese einen einwandfreien Leumund vorweisen konnte. Nun war Invests Arbeitgeber die Britische Regierung, was aus deutscher Sicht die Qualität des Leumunds schon beträchtlich infrage stellte. In jedem Fall aber passte das Hinterlassen von Spuren, wie beispielsweise Name und Anschrift des Arbeitgebers, nicht zu dem klandestinen Charakter von Invests Aufenthalt. Es blieb nur die Barzahlung.

Invest könnte seinen Zug vielleicht noch bekommen, wenn er sich beeilte. Schweiß stand auf seiner auffällig hohen Stirn. Die Angelegen- heit war wirklich dringend und er hatte sein Erscheinen bereits telegrafisch angekündigt, da durfte er nicht einfach den Zug verpassen. Vielleicht war er für das Desaster der letzten Nacht persönlich verantwortlich. Er konnte es nicht recht einordnen, obwohl er die ganze Zeit darüber gegrübelt hatte und deshalb so spät dran war.

»Stimmt so!«, brüllte er nach einiger Zeit dem noch immer nicht wieder aufgetauchten Concierge hinterher, steckte hastig sein Portemonnaie ein, nahm den ledernen Handkoffer, setzte die Sonnenbrille auf, huschte durch die sich gerade öffnende Eingangstür, rannte fast einen Juden und einen jungen Wikinger über den Haufen, entschuldigte sich und flog in höchster Eile über den Vorplatz in den Bahnhof zum gerade anfahrenden Eilzug nach Altona.

 

Während der Fahrt blickte er aus dem Fenster, hatte allerdings kein Auge für das saftige, frühsommerliche Grün der ausgedehnten Kuh- weiden und Buchenhaine, eher für das Rot des Klatschmohns an den Feldrändern, erinnerte es ihn doch an die blutigen Schrecken der vergangenen Nacht. Nie würde er sie vergessen.

 

Knapp zwei Stunden später war er in Altona angekommen. Er hatte beschlossen, die gut zwei Kilometer vom Altonaer Bahnhof zu den Landungsbrücken in St. Pauli zu Fuß zurückzulegen. Das Wetter lud dazu ein und vor allem seine Beine verlangten nach Bewegung. Er hatte eine Zugfahrt von Kiel hinter und eine Schiffsreise nach London vor sich. Den Fußweg kannte er gut, zunächst den riesigen Bahnhofsvorplatz entlang, zwischen dem Hotel Kaiserhof und dem monumentalen Stuhlmannbrunnen, der ihn immer wieder beeindruckte. In der Mitte des Brunnens erhoben sich zwei Zentauren, die um einen großen Fisch rangen, eine Allegorie auf die ständige Konkurrenz zwischen Altona und Hamburg, aber eigentlich eine Schönfärberei, ein Pfeifen im Dunkeln. Denn Altona kämpfte schon lange nicht mehr mit Hamburg um einen Fisch, Altona war selbst der Fisch. Und dem Moloch Hamburg triefte der Speichel aus den Lefzen, den fetten Brocken Altona neben sich zu wissen und doch nicht zubeißen zu können. Altona war groß und stark und selbstbewusst, es hatte in den vergangenen Jahrzehnten einige Umlandgemeinden geschluckt und war auf diese Weise rasant gewachsen, rasanter noch als Kiel, und der Altonaer Hauptbahnhof war fast doppelt so groß wie der Kieler. Altona war Norddeutschlands Drehkreuz zur Welt. Es verfügte über einen riesigen internationalen Hafen, über den es mit der ganzen Welt in Verbindung stand. Gerade dieser Hafen machte es für Hamburg begehrlich. Noch sollte es zusammen mit Norderstedt und Wandsbek ein schleswig-holsteini- sches Bollwerk gegen die immer weiter um sich greifende Metropole bilden. Aber lange würde es sich dem Hunger Hamburgs nicht mehr widersetzen können.

Invest hielt an und betrachtete das Wasserspiel des Brunnens. Immer wenn er hier vorbei kam, fragte er sich, ob die Zentauren nicht auch Deutschland und Britannien darstellten, wie sie um die Vorherrschaft auf den Weltmeeren kämpften, doch war nicht in Wirklichkeit Deutschland der Fisch?

Invest ging weiter, noch ein paar hundert Meter hinunter zur Elbe, dort nach links, am Holzhafen, am Ost-Hafen, am Fischmarkt und an der ›London Tavern‹ vorbei. Alles sah weitaus mehr nach großer weiter Welt aus als sonst irgendwo in Deutschland. Von der Fernweh-atmosphäre an der Elbe bekam Invest jedoch nicht viel mit. Zu sehr war er beschäftigt mit seinen dunklen Gedanken von Mord und Verrat. Der Dampfer sollte erst in ein paar Stunden ablegen und er konnte sich noch ausgiebig seinem gruseligen Schaudern hingeben.