Kieler Courage

Roman

378 S., Softcover, eBook, Gmeiner Verlag

Download
Kieler Courage - Leseprobe
Druckbare PDF-Datei
KielerCourageLeseprobe.pdf
Adobe Acrobat Dokument 122.0 KB


 

Kay Jacobs: Kieler Courage

 

Roman

 

Leseprobe

 

© 2021 - Gmeiner Verlag GmbH

 

 

I

 

 

Die Buddenbrooks flogen von links nach rechts und Effi Briest kam ihnen entgegen. Auf halbem Weg trafen sie sich, nicht zu einer gesitteten Kaffeerunde, eher wie Manfred von Richthofen und kanadische Jagdflieger einander getroffen hatten. Jetzt lagen die Bücher deutlich lädiert auf dem Dielenboden von Katharinas und Monas Zimmer, das eine direkt unter der Deckenlampe, das andere unmittelbar vor Monas Bett. Die Bücher stammten aus der Schulbibliothek des Kieler Oberlyzeums am Blocksberg und gehörten im Jahr 1920 zur Pflichtlektüre des dreizehnten Jahrgangs. Nun würden die beiden Fräuleins die lädierten Bücher bezahlen müssen.

Nach einer kurzen Schrecksekunde brüllte Mona Katharina an: »Hure!«

Und Katharina brüllte zurück: »Trampel!«

Dann folgte: »Asoziales Biest!«

Und: »Mauerblümchen!«

Wären ihnen schlimmere Worte eingefallen, sie hätten sie benutzt. Mona warf mit ihrem Schönschreibheft, das wie ein getroffenes Moorhuhn flatternd auf halbem Weg abstürzte und neben den Buddenbrooks liegen blieb. Katharina kramte ihre Handtasche hinterm Bett hervor und schleuderte sie auf Mona, die zur Abwehr ihren Arm hob. Die Tasche hätte sie am Kopf getroffen, wären ihre Reflexe nur ein wenig langsamer gewesen.

Der Grund für alles: eigentlich eine Lappalie. Für Katharina. Für Mona nicht. Ein Riss, kaum fünf Zentimeter lang, in Monas blauem Ausgehkleid.

Es war ihr einziges Ausgehkleid. Für das Lyzeum hatte sie eine Schuluniform, für den Alltag mehrere Straßenkleider in sittsamem Schwarz, Dunkelgrau oder Braun, aber sie besaß nur ein fröhliches Ausgehkleid. Sie hatte in den letzten Sommerferien lange bei der Ernte helfen müssen, bevor sie es sich hatte leisten können.

Ihre Familie war alles andere als wohlhabend. Dass Mona überhaupt hier am Oberlyzeum aufgenommen worden war und im Pensionat wohnen durfte, verdankte sie allein der Fürsprache des Dorfschulmeisters von Passade, einem alten Mann mit weißem Schnurrbart und traurigen Augen, der in den Kriegsjahren besonders schwere Klassenarbeiten ausgegeben hatte und, wenn er es irgendwie vertreten konnte, den Jungen eine sechs gab und sie sitzen bleiben ließ, damit sie nicht in den Krieg zögen. Den Mädchen hatte er gute Noten gegeben, damit sie nach der Dorfschule aufs Lyzeum und dann vielleicht sogar aufs Oberlyzeum würden gehen können und nicht in die Munitionsfabriken müssten. Wirklich erfolgreich war seine Strategie nicht gewesen. Die Mädchen waren mit guten Noten in die Fabriken und die Jungen ohne Schulabschluss an die Front gegangen. Und seine Augen waren immer trauriger geworden.

Monas Vater war ohne Beine aus dem Krieg zurückgekehrt, und jetzt lebte die Familie von einer schmalen Versehrtenrente und von dem, was die Mutter mit Putzen hinzuverdiente. An die Unterkunftskosten vom Pensionat oder auch nur an das Schulgeld wäre nicht zu denken gewesen, wenn der Dorfschulmeister nicht den Direktor des Oberlyzeums gut gekannt und Monas Talente nicht bis zur Grenze der Unanständigkeit übertrieben gelobt hätte. So aber waren ihr das Schulgeld erlassen und die Pensionskosten von der Gesellschaft freiwilliger Armenfreunde übernommen worden.

Katharinas Welt war ganz anders. Sie entstammte dem pommerschen Landadel, dem Geschlecht der Lettow-Vorbecks. Ihr Vater war ein berühmter General und ein Held des Weltkriegs. Sie konnte sich so viele Kleider kaufen, wie sie wollte, jedenfalls soweit es in dieser Nachkriegszeit Kleider zu kaufen gab, doch wenn es mal keines gab und sie dringend eines brauchte, dann ließ sie es sich schneidern. Sie besaß auch viele schöne Kleider, allerdings hatte sie kaum eines davon bei sich. Denn sie lebte erst seit einem Monat in Kiel, die Eltern lebten in Schwerin, und sie hatte nur so viel Kleidung dabei, wie sie in zwei Koffern hatte mitnehmen können, und ein Ausgehkleid war nicht darunter. Deshalb hatte sie sich Monas Kleid ausgeliehen.

Ursprünglich wollten Mona und Valentin, ihr Verlobter, miteinander ausgehen. Zu zweit wollten sie ausgehen, in das Palast-Theater am Dreiecksplatz und „Das Cabinet des Dr. Caligari“ anschauen. Als Valentin Mona abholen wollte, saß Katharina schmollend in der Zimmerecke wie ein vergessener Regenschirm, und Valentin schlug vor, dass sie mitkommen solle. Mona wurde nicht um ihr Einverständnis gebeten, und sie war nicht wirklich einverstanden, aber sie sagte nichts dazu. Stattdessen bekam sie einen Migräneanfall, so stark, dass sie nicht mehr ausgehen mochte. Katharina wusste aus eigener Erfahrung zu berichten, dass man nicht nur nicht ausgehen, sondern am liebsten ganz allein sein wolle, wenn man Migräne hatte. Mona wollte tatsächlich lieber allein sein, aber dass Valentin mit Katharina ausginge, das wollte sie eher nicht, doch so kam es, Mona wurde nicht gefragt. Gefragt wurde sie allerdings nach ihrem Ausgehkleid, wo sie es jetzt doch nicht brauche. Sie wollte es eigentlich nicht verleihen, aber sie mochte nicht ablehnen. Doch was sie überhaupt nicht wollte, war, dass Katharina erst tief in der Nacht heimkehren würde, lange nach Ende des Films und viel später als zehn Uhr, dem Beginn der vorgeschriebenen Nachtruhe, zu der alle Bewohnerinnen des Pensionats in ihren Betten liegen mussten. Sie stellte sich schlafend, als Katharina ins Zimmer schlich. So blieb die wichtigste aller Fragen ungefragt, die Frage, was in der Zwischenzeit geschehen war.

Am nächsten Tag gab Katharina ihr das Kleid zurück – genauer gesagt: Sie warf es achtlos auf ihr Bett – und fügte kein Wort des Dankes oder der Entschuldigung, nicht einmal einen Hinweis auf den Schaden hinzu. Mona hob es auf, entdeckte den Riss und musste Tränen unterdrücken. Katharina fuhr sie an, sie solle sich jetzt mal nicht so anstellen. Noch immer keine Entschuldigung, kein Angebot, ihr ein neues Kleid zu kaufen oder ihr eines von den eigenen zu schenken, nicht einmal, die Kosten für eine Ausbesserung zu übernehmen. Stattdessen der Hinweis, dass der Riss entstanden sei, als Katharina sich mit Valentin amüsiert habe, und zwar sehr wild amüsiert habe. Natürlich entsprach diese Darstellung nicht der Wahrheit, da war sich Mona vollkommen sicher. Katharina hätte sie es zugetraut, ihr traute sie alles Gemeine zu, aber Valentin würde sie nicht hintergehen. Nicht auf diese Weise und sicher nicht mit dieser eingebildeten Schnepfe. Trotzdem verlor Mona in diesem Moment ihre wohlerzogene Zurückhaltung.

»Du hinterlistiges Biest!«, rief sie.

Um Katharinas Mund huschte ein Ausdruck gehässiger Freude, doch nur kurz, sie schien noch nicht zufrieden zu sein. »Langweilige Kuh!«, grölte sie zurück. »Mit dir wird es keiner lange aushalten.«

»Valentin und ich werden heiraten! Und du wirst es nicht verhindern können.« Monas Hand machte eine abfällige Geste, oder war es bereits die erste Wurfübung? »Glaubst du vielleicht, ich hätte nicht bemerkt, dass du ihm ständig schöne Augen machst?«

»Ich ihm?«

»Ja, du ihm! Und er hat es auch bemerkt. Hat er gesagt. Und dass er dich nicht leiden kann, hat er auch gesagt!«

»Und mir hat er gesagt, dass er dich hässlich findet, dass deine Augen zu klein sind und deine Nase zu groß. Und dann haben wir gelacht!«

Danach waren die Bücher geflogen. Und die bösen Worte. Und das Schönschreibheft und die Tasche. Und als Worte nicht mehr ausreichten und der Vorrat an Wurfgeschossen aufgebraucht war, gingen sie mit Fingernägeln aufeinander los, mit Kratzen und Kneifen, und sie zogen sich an den Haaren. Als auch das nichts mehr half, musste das Bücherregal umgekippt werden. Fast begrub es Katharina unter sich, aber nur fast.

 

 

*

 

Wer in diesen Wochen das Haus von Gustav Radbruch betrat, verließ es regelmäßig nicht, ohne eine Tasse Tee getrunken zu haben. Auch wer keinen Tee mochte, wem er mit Zucker zu süß, mit Milch zu lind und ohne alles zu fad war, wurde genötigt, zumindest eine kleine Tasse zu probieren. Und das, obwohl Radbruch Juraprofessor war und die Strafbarkeit von Nötigung sehr wohl kannte.

Seine besondere Liebe zum Tee hatte er erst vor ein paar Monaten entdeckt. Halb durch Zufall, halb durch Streben hatte er gerade eine außerordentliche Professur erhalten, an der Universität in Kiel, dem Geburtsort seines Vaters. Gleich am ersten Samstagnachmittag spazierte er mit Lydia, seiner lieben Frau, durch die ihnen noch fremde Altstadt, um ihre neue Heimat zu erkunden. Radbruchs alte Heimat war Lübeck, wo er geboren worden und zur Schule gegangen war, auf dieselbe Schule wie Thomas Mann, nur zwei Jahrgänge trennte sie. Bei einem Vergleich der beiden Städte zog Kiel den Kürzeren, jedenfalls aus Radbruchs Sicht. Kiel war die Stadt der Arbeit und des Militärs, Lübeck die Stadt des Welthandels und der Kunst. Und Radbruch war ein Feingeist, der Literatur und den Künsten zugetan, nur aus Gehorsam gegenüber dem Vater zum Juristen geworden und ein großer Verehrer von Thomas Mann, der den Mut hatte, den Radbruch nicht gehabt hatte: die Schule abzubrechen und freier Schriftsteller zu werden.

Sie starteten den Spaziergang vor ihrem Haus in Düsternbrook, schlenderten durch die Brunswik und gelangten an den Kleinen Kiel, einem ehemaligen Seitenarm der Förde, der wie eine Banane westlich an die Altstadt geschmiegt einst als Stadtgraben gedient hatte. Die Altstadt betraten sie von Norden über die Dänische Straße, am Schloss vorbei zum Alten Markt, dem Zentrum der Stadt mit den Persianischen Häusern und der Nikolaikirche, wo seit alten Zeiten Bauern und Höker Grünwaren und Obst anboten. Die Radbruchs mussten den Platz diagonal queren, um in die Holstenstraße zu gelangen und dem mittelalterlichen Handelsweg über die Holstenbrücke aus der Stadt hinaus zu folgen. So, genau so hatten sich die Stadtgründer den Weg der Kaufleute vorgestellt, diagonal über den Marktplatz, vom geschäftigen Treiben an der Eile gehindert, zu einer Rast verführt und zum Feilbieten ihrer Waren. In der Holstenstraße setzten sich die Radbruchs ins Café Monopol und beobachteten die Leute, wie sie vom Metzger zum Bäcker hetzten und dann vielleicht zum Fischhändler. Überall konnte man wieder etwas bekommen, nur wenige Monate nach dem Ende des Krieges, auch wenn die Auswahl noch klein war, die Qualität meist schlecht, die Preise hoch – nicht jeder konnte sich das leisten. Und doch, es ging voran, der Weltenbrand war erloschen, die Asche kühlte ab. Die Zeiten blieben noch immer unruhig, aber das Versprechen einer besseren Zukunft war gegeben.

Radbruch trank seinen Kaffee aus und seine Frau schlug vor, nach Hause zu gehen. Sie wies schräg gegenüber in eine kleine Querstraße, das müsste die richtige Richtung sein. Vor einem Laden fiel des Professors Blick auf ein Emailleschild:

 

Paul Heyck

i. Fa. Heinrich G. Radbruch Nachfolger

Kolonialwaren, Teehandlung

Import von chinesischen und japanischen

Kunst- und Industriesachen

 

„Heinrich G. Radbruch“, das war der Name seines Vaters. Und das war ein Zeichen. Sie betraten den Laden und exotische Düfte hüllten sie ein, Düfte, die sie kannten, aber unglaublich lange nicht gerochen hatten. Zitrone, Ingwer, Pfeffer, Zimt, das alles war so lange her. Dann sahen sie eine Dose „Darjeeling first flush“ und konnten kaum glauben, dass diese Köstlichkeit zu bekommen war, in Kiel, wenige Monate nach dem Weltkrieg. Der Verkäufer berichtete voller Stolz, er habe den Sack persönlich im Hamburger Freihafen abgeholt. Natürlich hatte der Professor sich eine Tüte abfüllen lassen. Von da an besuchte er jeden Samstag die Teehandlung Heyck, um seine Vorräte aufzufrischen. Nicht jeden Samstag konnte er „Darjeeling first flush“ bekommen, aber immer fand er etwas Köstliches, das er ausprobieren konnte.

 

Heute, es war der 11. März, hatte der Professor Valentin Mohr zum Tee gebeten. Valentin war sein Doktorand und bester Schüler, und sie wollten über dessen Dissertation sprechen. Vor dem Krieg, als Radbruch noch in Heidelberg gelehrt hatte, hatte er eine Reihe von ebenso talentierten, vielleicht sogar talentierteren jungen Leuten gekannt. Mit zwei von ihnen stand er noch in Briefkontakt, von den anderen wusste er nicht einmal, ob sie den Krieg überlebt hatten. Jetzt war Valentin seine große Freude. Er schrieb über „Das Wesen der Strafe“.

Sie saßen in Radbruchs Arbeitszimmer vor dem Panoramafenster mit Blick auf den Garten, zwischen ihnen ein riesiger Schreibtisch aus Mooreiche, übersät mit Folianten und Notizpapier. Nur eine kleine Fotografie, die ihn mit seinem guten Freund Karl Jaspers zeigte, fand dort noch Platz. Lydia Radbruch kam herein und servierte den Tee, was sie immer tat, wenn ihr Mann Besuch hatte, nicht aus einem traditionellen Rollenverständnis heraus, das hatten die Radbruchs überwunden, sondern weil sie eine gute Gastgeberin sein wollte. Im Gegenzug servierte der Professor den Tee, wenn seine Frau Besuch hatte, kam sich dabei aber trotz aller Emanzipation reichlich deplatziert vor und kassierte nicht selten ungläubige Blicke.

Valentin hatte sich Notizen zu Kants „Metaphysik der Sitten“ gemacht, Radbruch hatte sich mit Feuerbach und Liszt bewaffnet. Nun waren die Kontrahenten bereit, intellektuell aufeinander einzudreschen.

»Nein, hören Sie auf mit diesem metaphysischen Firlefanz«, sagte der Professor und schleuderte Valentin eine abfällige Handbewegung entgegen, ganz gegen seine kontemplative, fast schon phlegmatische Natur. »Sühne und Läuterung, alles Unsinn. Strafe erfüllt nur einen Zweck: den potenziellen Täter von seiner Tat abzuhalten. Sicherung, Besserung und Abschreckung sind die Mittel dazu.«

»Aber Kant sagt …« Valentin blätterte hektisch in der Metaphysik.

»Mumpitz ist das«, erwiderte Radbruch. Es fiel ihm nicht leicht, so über Immanuel Kant zu sprechen. Denn er war Neukantianer und stand dazu. Aber wo Kant irrte, irrte selbst Kant. Und dass er irrte, war für Radbruch klar, und vielleicht aus Enttäuschung über sein großes Vorbild regte er sich immer auf, wenn es um Kants Straftheorie ging. »In einer Kulturgesellschaft gibt es nur ein Gut, das für sich selbst steht: der Mensch in seiner Würde. Alles andere hat einen Zweck, der auf dieses eine höchste Gut gerichtet ist. Strafe steht nicht für sich selbst, sie hat einen Zweck.«

Valentin verstummte. Er schaute auf seinen Tee und rührte einen Löffel Zucker hinein. Für den Professor war das Frevel, Zucker im Tee. Valentin wusste das, und der Professor wusste, dass er das wusste.

Nach einer Zeit nachdenklichen Umrührens ergriff der Doktorand wieder das Wort: »Und was ist mit dem Mörder, der erst Jahrzehnte nach seiner Tat überführt wird, wenn er uralt und gebrechlich ist? Einer, der körperlich nicht mehr in der Lage ist, jemanden zu töten? Der wird sicher nicht rückfällig, also bedarf er keiner Prävention. Wollen Sie den davonkommen lassen?«

»Natürlich nicht. Zur Prävention gehört auch die Bestätigung von Verhaltensregeln durch Aburteilung von Verstößen. Die Gesellschaft muss in ihrem Unwerturteil bekräftigt werden. Auch das ist Prävention.«

»Aber wenn allein Prävention eine Strafe rechtfertigt, dann könnte der Staat jeden wegsperren, der zu einer Straftat neigt, ohne dass er sie bereits begangen haben muss. Arme und Bedürftige müssten in Haft genommen werden, weil sie aus Not zum Diebstahl neigen, Jähzornige, weil sie zu Gewalttaten neigen.«

»Prävention ist der Zweck der Strafe, Schuld ihre Voraussetzung, und ohne bereits begangene Straftat keine Schuld. Sonst würden Sie den Einzelnen zum Schutz der Gesellschaft, die auch aus ihm besteht, aufopfern. Das wäre ein Widerspruch in sich. Außerdem verletzte es die Würde des Einzelnen, weil er dann nur noch Objekt staatlichen Handelns und nicht mehr Träger von Rechten wäre.«

»Aber Schuld ist doch ein metaphysischer Begriff.«

»Schuld ist in erster Linie ein kultureller Begriff. Die Gesellschaft bestimmt, was verboten und was erlaubt ist, nicht der Liebe Gott.«

Diese Gedanken waren nicht alt, nicht etabliert, sie hatten sich in den Köpfen der geistigen Eliten noch nicht festgesetzt, sie waren auch noch nicht bis ins Detail zu Ende gedacht. Und doch bildeten sie die notwendige Grundlage für einen demokratischen Rechtsstaat. Das war Radbruchs feste Überzeugung.

»Aber wenn der Mensch bestimmt, was Schuld ist, dann bestimmt er auch, was Recht ist. Und das liefe auf Willkür hinaus.«

Der Professor stand auf und schaute in den Garten, der noch weitgehend unbeeindruckt von dem sich ankündigenden Frühjahr vor sich hin schlief.

»Nicht der Einzelne bestimmt das Recht, mein Junge, sondern die Gesellschaft, die in ihrer Kultur verhaftet ist. Und Kultur entwickelt sich. Große Künstler, Denker und Staatsleute können sie beeinflussen, aber niemand kann sie bestimmen. Deshalb war das Recht vor hundert Jahren anders, als es heute ist. Und in China ist es anders als hier.«

Valentin kippte den Tee hinunter und ließ sich vom Professor nachschenken. Den Zucker rührte er nicht wieder an. Es war ihm offenbar ernst geworden.

»Trotzdem«, murmelte er und blätterte nachdenklich in Kants Metaphysik, obwohl er kaum eine Chance hatte, darin Hilfe zu finden, um seine Zweifel zu beseitigen. »Führt denn Kultur immer zum Guten? Fühlt man sich nicht zwangsläufig schutzlos bei dem Gedanken, dass es kein ewiges Gesetz gibt?«

»Zum ersten Mal fühlt ein Mensch sich schutzlos, wenn er erkennt, dass der Vater nicht der stärkste Mann auf Erden ist.«

»Glauben Sie nicht an Gott, Herr Professor?«

Die Gretchenfrage. Wie sollte Radbruch antworten? Er zog seine Pfeife aus der Westentasche, stopfte sie jedoch nicht und steckte sie nicht an, sondern roch fromm und andächtig ein Weilchen daran herum.

»Wir sind erwachsen geworden. Gott gibt uns vielleicht Ratschläge, aber er macht uns keine Vorschriften mehr.«

Zögerlich klappte Valentin die Metaphysik zu. »Aber der Moment, in dem ein Mörder zum Tode verurteilt wird«, sagte er leise. »In diesem Moment schweigen wir und wir machen keine Scherze mehr. Es ist ein heiliger Moment, der Moment der Läuterung, den wir auch dem Mörder schulden, damit er von der Last seiner bösen Tat befreit wird. Und Sie machen etwas ganz Profanes daraus, ein Mittel zum Zweck.«

»Sie sind unbelehrbar, mein Junge.«

»Sie auch, Herr Professor.«