Kieler Morgenrot

Roman

312 S., Softcover, eBook, Gmeiner Verlag

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Kay Jacobs: Kieler Morgenrot

Leseprobe

 

© 2018 - Gmeiner Verlag GmbH

 

 

I

 

Schorsch Bade konnte nicht sehen und nicht sprechen. Er hätte hören können, wenn es etwas zu hören gegeben hätte. Doch die Kälte gefror jedes Geräusch. Ein paar Minuten vorher hatte er sich noch in einer Hütte befunden, gefesselt, geknebelt, die Augen verbunden, am Boden liegend. Neben ihm Marke und Lampe, die eigentlich Klaus Marquort und Reinhard Lampke hießen – jedenfalls glaubte Schorsch, dass sie neben ihm gelegen hatten. Wahrscheinlich befanden sie sich auch jetzt wieder an seiner Seite, nur nicht mehr in der Hütte, sondern davor, im Schnee.

Den spürte er deutlich: in den Stiefeln, wie er an den Hosenbeinen taute, und vor allem, wie er seine Hände allmählich taub und steif werden ließ. Er lag auf dem Rücken, die Hände unter dem Körper aneinandergefesselt. Sie schmerzten. Schorsch kannte dieses Gefühl, der Schmerz würde erst bis an die Grenze des Erträglichen zunehmen und dann abebben. Das würde er überstehen, er war kein Zärtling. Trotzdem war die Lage ernst. Schorsch wusste nur nicht, warum.

 

Wegen des Streiks? Der Versammlung? Alle streikten – wieso befanden sich jetzt ausgerechnet er und seine beiden Freunde in dieser Lage? Sie arbeiteten bei der Kaiserlichen Torpedowerkstatt in Friedrichsort. Heute war der 28. Januar 1918 und seit einigen Tagen wurde die Werkstatt bestreikt. Alle streikten. Die Werksleitung hatte verkündet, dass nur Dreiviertel der Belegschaft die Arbeit niedergelegt hätte. Aber das stimmte nicht, alle streikten. Als ihre Vertrauensleute plötzlich und ohne jede Vorwarnung zur Armee eingezogen werden sollten, reagierten spontan alle Kameraden. Alle. Selbst die Genossen von den Werften hatten sich ihnen angeschlossen, zuerst die von der Germaniawerft – die waren schon immer ziemlich aktiv gewesen –, später auch viele von der Kaiserlichen Werft und von Howaldt. Die Kieler Rüstungsbetriebe standen seit Tagen still. Und, kaum zu glauben, heute traten sogar die Berliner Rüstungsarbeiter in den Ausstand.

Am Abend war Schorsch mit Marke und Lampe ins Gewerkschaftshaus in der Fährstraße gefahren. Die Streikleitung hatte die Arbeiter zu einer Versammlung gerufen, weil die Vertrauensleute nun doch nicht eingezogen werden sollten. Der Protest hatte Erfolg gehabt, die Arbeit hätte wieder aufgenommen werden können. Doch jetzt waren die Berliner im Ausstand.

»Wir müssen uns solidarisch verhalten!«, forderte ein Redner.

»Die streiken doch gar nicht wegen uns!«, rief jemand dazwischen. »Die wissen gar nichts von uns! Die streiken wegen der Revolution!«

»Welche Revolution?«, fragte Schorsch leise.

»Die Oktoberrevolution«, antwortete Marke kopfschüttelnd und, als Schorsch ihn begriffsstutzig anschaute, ergänzte er: »Die Weltrevolution, Mann!«

Vor ein paar Monaten hatte in Russland die Oktoberrevolution stattgefunden, zuerst die Februarrevolution, dann die Oktoberrevolution. Leo Trotzki hatte die anschließenden Friedensverhandlungen mit Deutschland als Tribüne genutzt, den Völkern der Welt die Grundsätze der proletarischen Revolution zu erklären. Plötzlich taumelten sämtliche Marxisten Europas in hoffnungsfroher Erwartung durch die Straßen, und die deutschen Spartakisten planten eine Januarrevolution, zuerst den Januarstreik, der würde zur Januarrevolution werden – und den ersten Schritt dazu hatten sie heute gemacht. In England, Frankreich und überall würden März-, April-, Mai- und Et-cetera-Revolutionen folgen, die Weltrevolution eben.

»Ich will eigentlich nur Frieden«, murmelte Lampe. »Und Essen.«

»Brot, Frieden und Revolution, das gehört zusammen. Sagt Trotzki«, belehrte ihn Marke.

Die Versammlung konnte sich nur verhalten für die Weltrevolution begeistern. Revolutionen hatten es in Kiel ohnehin schwer. Natürlich wählten die Arbeiter SPD, was sonst? Aber gemäßigt, die Mehrheits-SPD. Die Unabhängigen Sozialdemokraten nicht so sehr. Und die Spartakisten, also den revolutionären Flügel der USPD, erst recht nicht. So endete die Sitzung mit dem Beschluss, den Streik vorläufig weiterzuführen und in den nächsten Tagen neu zu beraten.

Kalt und dunkel war es, als Schorsch und seine beiden Freunde ihre Fahrräder bestiegen und den Heimweg antraten, einen weiten Weg, mindestens eine halbe Stunde bei Eis und Schnee, einen Weg, den sie aber abrupt abbrechen mussten. Gerade hatten sie sich mühsam die Bergstraße hinaufgetreten, da sprang ein Trupp Marinesoldaten aus dem Pissoir am Dreiecksplatz heraus und nahm sie mit vorgehaltenem Gewehr fest. Sie wurden in Handschellen gelegt und in ein Automobil gezerrt. Marke empörte sich und Schorsch fragte, was das solle. Eine Antwort erhielt er nicht. Sie fuhren die Holtenauer Straße entlang, hielten nach einiger Zeit an und bekamen Augenbinden und Knebel verpasst. Dann fuhren sie weiter, kamen in einem Waldstück an und hielten schließlich vor der Hütte. Niemand redete mit ihnen, sie wussten nicht, warum sie dort hingebracht wurden. Aber dass es eine Hütte in einem Waldstück war und nicht etwa eine Arrestanstalt in der Stadt, das stand fest. Die Stille im Wald war anders als die Stille in der Stadt, auch der Schnee war anders und die Luft. Die drei Freunde waren nicht verhaftet worden, man hatte sie verschleppt.

Angst befiel Schorsch. Nicht dass er misshandelt worden wäre. Hier und da ein fester Griff, fester vielleicht als nötig, aber zugleich eine Behandlung mit behütender Sorgfalt, Zärtlichkeiten fast, Wohlwollen möglicherweise. Als er aus dem Auto aussteigen musste, spürte er an seinem Kopf eine Hand, die ihn leitete und vor dem Türrahmen schützte. Er dachte an die Hand seiner Mutter, wenn sie ihn tröstend umschlungen hatte, und an die Hand des Pastors, wenn er ihn gesegnet hatte. Solche Hände würden nicht foltern oder töten, er konnte beruhigt sein. Und doch befiel ihn Angst.

In der Hütte setzte man Schorsch zunächst auf einen Stuhl, später legte man ihn auf den Boden, die beiden anderen vermutlich auch. Die Soldaten dürften um sie herumgestanden haben, noch immer sprach niemand. Nach einer Weile hörte er, wie sich die Tür öffnete und zwei, vielleicht drei Männer den Raum betraten. Die Soldaten machten hektische Geräusche, wahrscheinlich waren die Ankömmlinge Offiziere und die Soldaten standen stramm. Jetzt wurde zwar geredet, aber nichts, was Aufschluss über die Situation hätte geben können.

»Wir übernehmen. Treten Sie weg«, sagte einer der Offiziere und bekam ein »Jawohl!« als Antwort.

Als die Soldaten die Hütte verlassen hatten, wurde wieder geschwiegen. Schorsch hoffte, dass ein Verhör folgen würde. Wegen des Streiks, der Versammlung. Der Völkerkrieg tobte seit dreieinhalb Jahren, und die Torpedowerkstatt gehörte zu den wichtigsten Rüstungsbetrieben. Da konnte eine nervöse Reaktion des Militärs nicht verwunderlich sein, da musste man mit Verhaftungen und Verhören rechnen. Einige Streikführer waren gestern oder vorgestern verhaftet worden, das wusste Schorsch. Er hoffte inständig, dass er jetzt wegen des Streiks verhört werden würde. Aber es gab kein Verhör. Die Offiziere wollten von ihm nichts wissen, von den beiden anderen auch nicht. Sie fragten sie nichts, auch untereinander sprachen sie nicht. Offenbar wussten sie genau, was zu tun war, sie brauchten sich nicht zu verständigen. Und was zu tun war, musste etwas anderes sein als ein Verhör. Die Offiziere öffneten die Tür, packten Schorsch beim Kragen, zerrten ihn hinaus und warfen ihn in den Schnee. Dann hatte er Geräusche gehört, die ihn vermuten ließen, dass auch die beiden anderen herausgeholt worden waren. Und jetzt lag er im Schnee, wusste nicht warum und befürchtete das Schlimmste.

Wahrscheinlich waren die Soldaten keine richtigen Soldaten gewesen und die Offiziere keine richtigen Offiziere. Er war verschleppt worden, er und die beiden Freunde. Mit dem Streik hatte es nichts zu tun, es gab kein Verhör – Schorsch konnte sich aus dem Geschehen keinen Reim machen, es sei denn, es hatte mit den Leuten zu tun, mit denen sie sich eingelassen hatten.

Sie hatten sich mit den falschen Leuten eingelassen. Mit Leuten, denen sie nicht gewachsen waren und die keinen Spaß verstanden. Marke hatte ihn gewarnt, auch Lampe war skeptisch gewesen, aber Schorsch hatte es natürlich besser gewusst und schließlich die beiden anderen überzeugt. Zuerst hatten sie durchaus Vorteile daraus gezogen und es hatte keine Anzeichen gegeben, dass sich daran etwas ändern würde. Nichts, was diese Leute hätte verärgern und gegen sie aufbringen können, war passiert. Jedenfalls wusste Schorsch von nichts. Und doch, irgendetwas hatte passiert sein müssen.

 

Schorsch begann zu zittern. Er hätte nicht sagen können, ob vor Kälte oder Angst. Die Hände schmerzten. Wäre er nicht geknebelt gewesen, hätte er fragen können, was man von ihm wollte, was er falsch gemacht hatte, er und die beiden anderen, wie sie es wiedergutmachen konnten. Er hätte Reue zeigen oder vielleicht auch nur ein Missverständnis ausräumen oder eine Verwechselung aufklären können. Aber so? Er hörte, dass jemand ganz nahe neben ihm stand. Es waren keine Geräusche, er konnte die Nähe hören. Dann spürte er einen Stich am Hals, ein Ziehen, das sich von links knapp über dem Kehlkopf nach rechts zog und für einen kurzen Moment eine fast angenehme Wärme über seinen Hals ergoss. Er wusste, dass dies das Letzte sein würde, was er in seinem Leben spüren sollte.

 

 

 

 

II

 

Reformationstag 1918. Es war düster geworden in Deutschland. Zu früheren Zeiten hätte man den bevorstehenden November mit seinem notorisch trüben Wetter und seinen Trauertagen dafür verantwortlich gemacht. In diesen Jahren war es aber der Krieg, der sich auf die Seelen der Menschen legte. Sie hungerten, litten, starben und trauerten an der Front und in der Heimat. Je länger der Krieg dauerte, desto größer wurde das Leid. Aber auch die Gewöhnung. Hatte ein Todesfall in der Nachbarschaft vor einigen Jahren noch zu großer Bestürzung geführt, löste er inzwischen oft nicht einmal Betroffenheit aus. So wenig der Tod die Menschen mittlerweile schockierte, der Anblick von Leichen berührte sie doch, wenn auch nicht im Sinne von Trauer, sondern im Sinne von Ekel.

Auch Josef Rosenbaum ging es so. Seit 23 Jahren war er im Polizeidienst, zuerst in Berlin bei der Mordkommission A, dann in Kiel als Leiter des Ersten Kommissariats, zuständig für Mord und Totschlag. Er hatte schon viele Leichen gesehen, in allen denkbaren Zuständen, gewöhnt hatte er sich daran nie. Tatortbegehungen gehörten zu den unangenehmsten Aufgaben, die er zu bewältigen hatte. Natürlich gab er es nicht zu, außer einmal Hedi gegenüber, seiner schönen Assistentin, vielleicht aus Versehen, vielleicht aus Vertrautheit, genau wusste er es selbst nicht.

Jetzt war es wieder so weit, mittags um zwölf im Projensdorfer Gehölz zwischen der Kieler Stadtgrenze und dem Kaiser-Wilhelm-Kanal. Rosenbaum und Hedi standen vor einer Leiche. Der Kommissar kniete nieder, um den Toten genauer betrachten zu können, aber auch um den Anschein zu vermeiden, dass er sich ekeln würde. Je näher er der Leiche kam, desto stärker wurde sein Widerwille, vor allem wegen des Gestanks. Wie von verdorbenem Schweinebraten, den jemand in eine Mülltonne geworfen hatte – wenn man nichtsahnend den Deckel öffnete, ein Gewimmel von kleinen weißen Tierchen erblickte und der bestialische Gestank einen ansprang. Rosenbaum wusste, dass von Verwesungsgeruch keine gesundheitlichen Gefahren ausgingen, und doch konnte er das Gefühl, einem Miasma ausgeliefert zu sein, nicht vollständig besiegen. Er hatte an diesem Tag nicht gefrühstückt und es könnte einige Stunden dauern, bis er wieder in der Lage sein würde, etwas zu essen. Dabei hielt sich der Gestank heute durchaus in Grenzen. Die Verwesung war weit fortgeschritten, ein Großteil ihrer Geruchsstoffe verflogen. Auch der Anblick war halbwegs erträglich. Die Haut der Leiche sah aus wie eine zerrissene Lederjacke, die lange Zeit im Regen gelegen hatte. Die Augäpfel fehlten, der rechte Unterarm lag abgetrennt neben dem Torso, die übrigen Extremitäten wurden von der Kleidung zusammengehalten.

»Wissen wir, wer das ist?«, fragte Rosenbaum den Oberwachtmeister, der den polizeilichen Einsatz bisher geleitet hatte. Als der Kommissar und seine Assistentin mit ihrem Dienstwagen vor einer 20 Meter entfernt liegenden Forsthütte eingetroffen waren, hatte er sie in Empfang genommen, sich geduldig Rosenbaums Geschimpfe angehört – dass zwar die Hütte, nicht aber der Weg dorthin in seinem Straßenplan eingezeichnet sei – und sie durch das Unterholz zum Fundort geführt. Jetzt stand er ihnen assistierend zur Seite.

»Nein, Herr Kommissar, keine Ausweispapiere. Der Kleidung nach zu urteilen wahrscheinlich Werftarbeiter«, antwortete er in eifrigem, förmlichem und leicht devotem Ton.

Die Leiche war in graublaue Arbeiterkluft gekleidet. Neben ihr lag eine Ballonmütze, wie sie zwar in der gesamten Arbeiterschicht vorkam, bei den Werftarbeitern aber am häufigsten anzutreffen war.

»Was gibt es zur Auffindesituation zu sagen?«

»Dort vergraben«, antwortete der Oberwachtmeister und zeigte auf eine Grube, um die zehn Polizeianwärter mit Hacken und Spaten herumstanden und sich von harter körperlicher Arbeit erholten. »Etwa 60 Zentimeter tief. Hund des Försters hatte Arm ausgegraben.« Jetzt zeigte der Wachtmeister auf die Hütte, neben der sie gerade geparkt hatten. Auf ihrer Eingangsstufe saß ein Mann in grüner Uniform und vor ihm sein Hund. Sie schienen miteinander zu sprechen. Natürlich taten sie das nicht wirklich. Der Mann redete und der Hund hörte zu. Aber auf die Entfernung sah es so aus, als antwortete der Hund, wenn auch nur einsilbig.

»Saß die Mütze auf dem Kopf der Leiche?«

»Nein, Herr Kommissar. Lag daneben.«

Rosenbaum schaute den Wachtmeister an und nickte, während Hedi schmunzelte. Es kam selten vor, dass ein uniformierter Kollege normal mit ihm redete. Die Worte ›Jawohl‹ und ›Herr Kommissar‹ fielen überdurchschnittlich oft. Attribute, Artikel und Verben fehlten hingegen vielfach und ein ›Ich‹ hatte Rosenbaum von einem Wachtmeister fast nie gehört. Dieses autoritätsgläubige Verhalten war ihm zuwider und er erinnerte sich nicht, jemals Veranlassung dazu gegeben zu haben, jedenfalls nicht absichtlich. Er hatte aber auch nie etwas dagegen getan. Im Gegenteil, seine Abneigung ließ ihn unfreundlicher werden und die Uniformierten noch ein wenig unterwürfiger.

»Gehörte sie denn dem Opfer?«

»Jawohl, Herr Kommissar. Also …«

Eine nachdenkliche Pause entstand, die Rosenbaum dazu nutzte, die Mütze über den Schädel der Leiche zu ziehen. Sie war zu groß.

»Lassen Sie nach einer weiteren Leiche graben. Und die Männer sollen dabei vorsichtig vorgehen«, ordnete Rosenbaum an.

»Jawohl!« Der Oberwachtmeister lief auf seine Leute zu und trieb sie mit hektischen Bewegungen an, ganz so, als dürfe man einen Kriminalkommissar nicht warten lassen.

»Ich befrage mal den Förster«, sagte Hedi, als Rosenbaum die Ballonmütze zurücklegte.

»Ich befrage den Förster und Sie können mitkommen«, sagte Rosenbaum.

Die Hütte war nicht groß, vielleicht 20 Quadratmeter. Sie wirkte nicht sehr solide, ein mit Brettern verhauenes Holzgerüst, das nicht gepflegt wurde.

»Sie haben die Leiche gefunden?«, rief Rosenbaum dem grünen Mann zu, als sie noch zehn Meter entfernt waren. Nachdem Hedi vor drei Jahren seine Assistentin geworden war, hatte er sich angewöhnt, das Gespräch möglichst früh zu eröffnen. Sonst würde Hedi zu plappern beginnen, und dann hörte sie so schnell nicht wieder auf. Unzählige Male hatte er ihr schon gesagt, dass sie still zu sein habe, wenn er mit Zeugen sprach – geholfen hatte es nicht.

Der grüne Mann stand so hastig auf, dass sein Hund erschrocken zusammenzuckte.

»Jawohl!«, antwortete er, machte einen Diener und stellte sich vor: »Forstmeister Sachs.«

Rosenbaum hatte noch nie einen Forstmeister kennengelernt, aber offenbar wiesen sie gegenüber Kommissaren dieselbe Unterwürfigkeit auf wie Wachtmeister.

»Josef Rosenbaum«, sagte der Kommissar, lächelte und streckte Sachs die Hand zur Begrüßung entgegen. Während des Handschlags wedelte der Hund mit dem Schwanz, er wollte auch begrüßt werden.

»Einen hübschen Hund haben Sie da«, sagte Hedi und hielt ihre Hand vor die Hundeschnauze.

»Danke. Er heißt Bodo.«

Nachdem Hedis Hand ausgiebig und ausgesprochen feucht beschnüffelt worden war, strich sie dem Hund über den Kopf und hatte wieder eine trockenere, aber etwas klebrige und ausgesprochen haarige Hand.

»Noch ziemlich jung, nicht wahr?«, fragte Rosenbaum.

»Zehn Monate. Ich musste lange darauf warten. Den alten hat das Heer requiriert. Sobald Bodo vollständig ausgebildet ist, werden sie auch ihn holen.«

Rosenbaum hatte davon gehört, dass das Militär neuerdings Spürhunde einsetzte. Dass sie vorher den Jägern weggenommen wurden, wusste er nicht.

»Vielleicht wird er ja gar nicht vollständig ausgebildet«, sagte er. Erst im Nachhinein wurde ihm klar, dass seine Äußerung als Anstiftung zu kriegsschädlichem Verhalten aufgefasst werden konnte. Dann wurde ihm klar, dass er es auch so gemeint hatte.

»Und Bodo hat die Leiche gefunden?«, fragte Hedi und erntete von Rosenbaum einen missbilligenden Blick.

»Ja, das hat er.«

»So ein unerwarteter Fund muss sehr schockierend sein, nicht wahr?«, beeilte sich der Kommissar, das Wort wieder an sich zu reißen.

»Ich bin noch ganz außer mir«, seufzte der Förster. »Das war wirklich ein Schock.« Seine Stimme wurde weicher, seine Bewegungen auch, und er hatte mehrmals ›Ich‹ gesagt. Leutseligkeit wirkte.

Sachs berichtete, dass im Projensdorfer Gehölz Wildschweine gesichtet worden seien, obwohl sie in dieser Gegend seit Langem als ausgerottet galten. »Eines dieser Tiere muss die Leiche freigelegt haben. Bodo fand die Stelle und apportierte einen Arm.« Lobend kraulte der Förster seinen Hund hinterm Ohr. Der Hund bedankte sich mit einem kurzen Bellen.

»Die Leiche dürfte bereits einige Zeit dort vergraben gewesen sein. Wie kommt es, dass Bodo sie nicht schon früher gefunden hatte?«, wollte Rosenbaum wissen.

»Ich hab ihn ja noch nicht so lange. Und er hatte keinen Auftrag, nach vergrabenen Leichen zu suchen. Und wir sind auch nicht oft hier.«

»Ach, ist das nicht Ihr Forsthaus?«

»Das ist doch kein Forsthaus. Das ist Folklore, bestenfalls.« Der Forstmeister schüttelte lächelnd den Kopf. »Die ganze Ecke hier war ursprünglich Kanalgebiet. Als die Burschen vom Reichskanalamt sich nicht mehr darum kümmern wollten, pflanzten sie Setzlinge ein und bauten die Hütte, und zwar so, wie sich Wasserleute ein Forsthaus vorstellen – Folklore eben. Dann sagten sie: Das ist jetzt ein Forst. Und nun sollten wir uns darum kümmern. Der damalige Oberförster lachte sich einen Ast, als er den Verhau sah.«

Rosenbaum versuchte, durch die geschlossenen Fensterläden in die Hütte zu schauen. Alles dunkel, er konnte nichts erkennen.

»Können wir reingehen?«

»Klar.«

Sachs zog ein Schlüsselbund aus der Jackentasche. Die Tür quietschte, als er sie öffnete, und die Dielen knarrten, als Rosenbaum sie betrat. Müdes Tageslicht dämmerte in einen schlafenden Raum. Rechts ein Spülstein, daneben ein Schränkchen mit Blechgeschirr, in der Ecke ein Kanonenofen, gegenüber ein Fenster, links ein Regal und eine Holzbank, in der Mitte mehrere Stühle, ein Tisch. Alles alt, grobschlächtig, staubig, muffig. Rosenbaum kam sich vor wie Howard Carter.

»Ist offenbar längere Zeit nicht genutzt worden«, sagte Hedi.

»Wir stellen höchstens mal Gerätschaften hier ab. Früher haben in der Hütte manchmal Waldarbeiter übernachtet, wenn sie in der Nähe zu tun hatten. Aber jetzt gibt es keine Waldarbeiter mehr.«

»Alle an der Front?«, fragte Rosenbaum.

Sachs nickte.

Der Kommissar kniete nieder und inspizierte die Bodendielen in der Hoffnung, Spuren von Blut zu entdecken, fand aber nur Staub. Der Hund bummelte auf ihn zu. Für den Boden interessierte er sich nicht, lediglich für Rosenbaums Haare. Kurz beschnüffelte er sie und widmete sich danach ausgiebig einigen Spaten und Forken, die neben dem Regal an der Wand lehnten.

»Bodo! Komm her!«, befahl der Förster.

Der Hund brauchte zwei weitere Aufforderungen, bevor er widerwillig zu seinem Herrchen trottete.

Rosenbaum griff nach einem der frisch beschnüffelten Spaten und betrachtete ihn genau. »Wäre Bodo denn in der Lage, eine Leiche in 60 Zentimeter Tiefe zu finden?«

»Selbstverständlich, er ist ein Schweißhund. Das ist quasi sein Beruf. Also, wenn er mit der Lehre fertig ist. Deshalb ist das Militär ja scharf auf ihn.«

Als Rosenbaum seine Hand nach Bodo ausstreckte, kam der Hund ein paar Schritte auf ihn zu und bot sein Ohr zum Kraulen an.

»Vielleicht könnten Sie uns helfen«, sagte der Kommissar.

 

Eine halbe Stunde später waren zwei weitere Leichen ausgraben. Bodo hatte an der Ballonmütze geschnuppert, war in die Grube gesprungen, hatte an zwei, drei Stellen gestöbert, prompt den passenden Schädel freigelegt und – wo er gerade in Fahrt war – gleich daneben noch einen weiteren. Das hatte insgesamt eine Minute gedauert. 29 Minuten hatten anschließend die Polizeianwärter gebraucht, bis die leblosen Körper geborgen waren.

Jetzt lagen die Leichen nebeneinander aufgereiht auf dem Waldboden. Die Polizeianwärter standen dahinter, Rosenbaum, Hedi, der Oberwachtmeister, der Förster und der Hund davor.

Sachs beugte sich zu seinem aufgeregt hechelnden Hund hinunter. »Na, möchtest du gerne weitersuchen?« Bodo jaulte, der Förster nickte und wandte sich Rosenbaum zu. »Er hat noch nicht genug.«

»Wo drei Leichen sind, können auch vier sein«, sagte Rosenbaum. »Dann mal los.« Er schaute in die Gesichter der Polizeianwärter, die vor Erschöpfung wahrscheinlich glaubten, vier Leichen wären unmöglich. Aber sie trauten sich nicht, das auszusprechen.

Sachs ließ den Hund von der Leine und Bodo sprang erneut in die Grube, dann wieder hinaus, lief von Baum zu Baum, dann zu einem Strauch und wieder zurück, schnupperte hier und dort und schlug schließlich an. Eine Viertelstunde später brachten die Polizeianwärter das Skelett eines Eichhörnchens zum Vorschein. Der Vorgang wiederholte sich in ähnlicher Weise dreimal, bis Sachs seinen Hund entschuldigte – »Er ist noch jung« – und Rosenbaum die weitere Suche einstellen und die Fundstücke zur Kieler Gerichtsmedizin in der Hospitalstraße bringen ließ.

Rosenbaum und Hedi begleiteten den Transport. Außer den Leichen und der Mütze hatten sie keine Spuren, und Rosenbaum hoffte, dass wenigstens der Gerichtsarzt ein paar schnelle Tipps würde geben können.