Combo

Roman

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KAY JACOBS

Combo

Roman


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Sie haben mich wieder freigelassen, nicht weil ich nichts getan hätte oder weil nichts Schlimmes passiert wäre. Es war schlimm und ich hab es getan. Und ich werde es nicht vergessen, egal ob sie mich doch noch einsperren oder nicht.

Sie haben mich freigelassen, ich kann nach Hause fahren, mit Mimi, die sie angerufen hatten, weil ich erst siebzehn bin. Ich bin frei, jedenfalls vorläufig und bis auf die Tatsache, dass ich halt erst siebzehn bin, und Mimi meint, sie müsse mir hirnrissige Vorschriften machen, nur um zu beweisen, dass sie zu bestimmen hat.

Sie haben mich wieder freigelassen, weil keine Fluchtgefahr besteht und weil Mimi versprach, auf mich aufzupassen, und weil ich sagte, dass es mir leidtue, und weil es mir wirklich leidtut, vor allem aber, weil ich nichts verstanden hab, nichts, und erst jetzt kapiere, dass ich nichts verstanden hab. Ich soll jetzt zu Hause in Ruhe noch mal drüber nachdenken und irgendwann würde ich für eine Begutachtung zu einem Psychiater müssen und danach zum Richter, aber bis dahin könne ich zu Hause bleiben.

 

Zwei Tage vorher:

»Ich heiße Helle, also eigentlich Helmut, aber das hört sich an wie Hamlet.«

Mit dieser Flapsigkeit war mein Mut aufgebraucht. Ich hätte dem Mann, der mir gegenübersaß, ins Gesicht sehen sollen, aber die Kraft reichte nur bis zur Brusthöhe und auch das war nach ein paar Sekunden vorbei und mein Blick sank wieder auf den Tisch, der zwischen uns stand.

»Mein Name ist Thomas Scheel. Ich will mich mit Ihnen über die Sache unterhalten, damit wir verstehen, wie es dazu gekommen ist. Darf ich ›du‹ sagen?«

»Ja, klar.«

»Gut Helle, du brauchst hier nichts zu sagen, wenn du nicht willst, und du kannst dir jederzeit einen Anwalt nehmen. Soweit verstanden?«

»Ja.«

»Okay.«

Pause.

»Wann hast du dich zu der Tat entschlossen?«

Diese Worte legten sich wie eine dünne Sehne um meinen Hals und zogen fest zu. Die Venen schwollen an und der Kopf färbte sich vermutlich rot. Ich brachte keinen Ton heraus.

»Helle, wann hast du ...«

»Ich weiß nicht mehr«, schoss es dann doch aus mir heraus, als wäre die Sehne gerissen. Ich musste schweres Atmen unterdrücken, aber es herrschte eine solche Stille, dass es trotzdem im ganzen Raum zu hören sein musste.

»Dann fang doch einfach ganz von vorne an. Wir haben alle Zeit der Welt.«

Ich könnte die Aussage verweigern, wahrscheinlich wäre das auch das Vernünftigste. Oder ich könnte einen Anwalt anrufen, der würde mir erzählen, was das Vernünftigste wäre. Doch dann befände ich mich in der Täterrolle. Ich war aber nicht der Täter, ich war das Opfer, allenfalls der Ankläger. Ich schaute zur Seite und suchte ein Fenster, aus dem ich hinausblicken, oder sonst irgendetwas, das ich ansehen könnte und das mir sagte, was ich jetzt tun solle. Ich fand aber nichts, nur ein Bild vom Innensenator an der Wand und einen großen Spiegel an der anderen. Den obligatorischen, rückseitig durchsichtigen Spiegel, der in allen Verhörräumen der Welt hängt, jedenfalls in solchen, in denen nicht gefoltert wird. Daran kann man rechtsstaatliche Verhörräume erkennen, vielleicht kann man daran sogar Rechtsstaaten erkennen. Zumindest bezweifele ich, dass es im Iran oder in Nordkorea Verhörräume mit einseitig durchsichtigen Spiegeln gibt. Aber eigentlich hätte ich auch nicht gedacht, dass es so etwas überhaupt gibt, außerhalb von Kriminalfilmen.

»Der Spiegel ...«

»... ist nicht mehr in Gebrauch.« Scheel zeigte auf drei kleine Glaskuppeln, die von der Decke hingen. »Das passiert bei uns inzwischen alles digital.«

»Krass«, sagte ich. Das sage ich immer, wenn ich nichts besseres zu sagen weiß. Einige sagen ›fett‹, aber das ist mir zu eingeschränkt. Meist passt ›krass‹ ganz gut als Anerkennung für eine krasse Leistung oder als Kritik an krasser Fehlleistung oder einfach so. Was ich jeweils meine, ist meist eindeutig, notfalls kann ich es auch später noch klarstellen und, wenn ich noch Zeit zum Überlegen brauche, hab ich die auch. Wenn ich ausdrücken will, dass etwas wirklich krass ist, dann sage ich ›voll krass‹. ›Krass‹ ist voll genial, eine Variable wie das ›x‹ bei Funktionsgleichungen. ›Wahnsinn‹ funktioniert auch, aber ›krass‹ ist besser.

»Krass«, wiederholte ich leise, weil mir noch immer nichts eingefallen war, vielleicht aber auch, weil ich eigentlich nichts sagen wollte.

»Wo bist du denn geboren?«

»In Berlin.«

»Erzähl.«

»Ich erinnere mich nicht daran.«

»Schon klar. Woran erinnerst du dich denn?«

»An Mimi.«

»Deine Mutter?«

»Ja, und an Dad.«

»Dann erzähl.«

 

---

 

Gezwungenermaßen wurde ich geboren. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte das nicht notgetan. Wenn es nach Dad gegangen wäre, auch nicht. Aber Mimi wollte nicht abtreiben. Später erzählte sie, dass es gar kein Versehen war, sondern dass sie mich geplant habe, und dass Dad eigentlich auch dafür gewesen sei. Seine Freude sei nur von Ängsten überlagert worden. Er hatte damals nicht so viel verdient und sein Job war immer unsicher gewesen und deshalb habe er die Verantwortung gescheut. Aber als klar war, dass ich kommen würde und dass sicher nicht abgetrieben werden würde, habe er sich auch gefreut. Und als ich dann da war, habe er so ein Brimborium gemacht, dass es Mimi fast zu viel geworden sei und sie befürchtet habe, Dad könnte seinen Job vernachlässigen. Ihre Rollen hätten sich unmerklich vertauscht. Das sagte sie, aber ich glaub das heute nicht mehr. Ich glaub, sie wollte mich trösten.

 

---

 

»Du glaubst, dein Dad hat dich nicht lieb gehabt?«

»Doch, klar hatte er das. Aber anders als Mimi, mehr mit dem Kopf.«

»Mit dem Kopf?«

»Und Mimi mehr mit dem Bauch.«

 

---

 

Meine Eltern waren so ne Art Spät-Spontis. Die fanden alles gut, was natürlich war: Jute, freien Sex, Beulenpest. Gut war auch Haschisch, aber kein Aspirin. Und Kinder waren gut. Dad meinte, man könne ja abtreiben, wenn man das Kind nicht will, aber wenn man das nicht mache, dann müsse man das Kind auch liebhaben. Das war seine Überzeugung und deshalb musste er mich gut finden. Mimi war da ganz anders. Sie fand mich einfach gut. Punkt. Mit dem Bauch und ohne überlegen.

 

Dad kam aus Bremen, machte dort Abitur und zog dann nach Berlin, weil er keinen Wehrdienst ableisten wollte. Nach einigen Monaten kam er aber zurück und behauptete, ihm sei klar geworden, dass er sich nicht drücken dürfe. Vielleicht war es aber auch nur bequem, bei Oma und Opa zu wohnen. Er machte Zivildienst und studierte später in Göttingen Soziologie. Dann zog er wieder nach Berlin und wurde wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni. Als das vorbei war, schrieb er politische Artikel für verschiedene Zeitungen.

Mimi wuchs in Berlin auf und machte nach der Mittleren Reife eine Ausbildung zur Erzieherin. Danach ging sie drei Jahre zur Abendschule, studierte Sozialpädagogik und schrieb nebenbei Artikel für einige Zeitungen.

Sie lernten sich bei der Zeitung kennen. Dad war klein und ein wenig dick. An das Dicke erinnere ich mich noch, an das Kleine nicht mehr so gut, aber man kann es deutlich auf alten Fotos sehen. Und er hatte eine Knollennase, damit sah er richtig lustig aus. Mimi sieht auch lustig aus. Sie hat ein rundes Gesicht, das von einer pilzförmigen Frisur eingerahmt ist. Früher waren ihre Haare dunkelblond, jetzt sind sie meist rot oder braun. Manchmal auch orange oder grün, dann geht sie schnell zum Friseur und der macht sie wieder rot oder braun. Sie hat auch eine Knollennase. Weil sie beide dieselbe Nase hatten, fanden sie sich sofort sympathisch. Und als ich kam, haben sie mir auch so ne Nase verpasst.

Dad war freier Journalist und Mimi machte ein Volontariat. Damals war gerade in Bad Kleinen ein Terrorist bei einer missglückten Festnahme ums Leben gekommen und die Redaktion setzte Dad und Mimi darauf an zu recherchieren, ob er von den Polizeibeamten absichtlich getötet worden war. Sie fuhren zusammen nach Bad Kleinen, nach Frankfurt, nach Bonn und sonst wo hin und übernachteten zuerst in getrennten Zimmern und später in einem, nur um Geld zu sparen. Als sie wieder zu Hause waren, blieben sie dabei.

Dad war damals so drauf, dass es ihm lieber gewesen wäre, wenn der Terrorist, tatsächlich von GSG-9-Beamten ermordet worden wäre, nicht weil er dann eine tolle Story gehabt hätte, sondern weil sich das ›Schweine-System‹ auf diese Weise selbst entlarvt hätte. So redete er damals ziemlich oft. Mimi fand das ganz schrecklich. Sie meinte dann immer, er solle sich mal an den Kopf fassen, er sei selbst schon faschistoid und abgrundtief zynisch. Dann drehte er meist voll auf mit Umweltverschmutzung und Neonazis und Bonzen und ›macht kaputt, was euch kaputt macht‹ und, dass es unverantwortlich sei, in dieser Situation Kinder in die Welt zu setzen. Das war regelmäßig der Moment, wo Mimi nichts mehr sagte, sondern ihre Jacke nahm, die Tür knallte und sich eine Woche nicht meldete. Auf diese Weise knallte es bei ihnen von Anfang an, mindestens einmal pro Monat. Die Freunde und Kollegen haben damals kaum glauben können, dass gerade diese beiden zusammenkommen und vor allem zusammenbleiben konnten.

Aber sie waren auch sehr lieb miteinander. Oft schrieben sie sich ganz zärtliche und romantische Briefe. Obwohl sie beide damals schon einen Computer hatten, schrieben sie mit der Hand. Auch Schreibmaschine, wie bei Bukowski oder Hemingway kam für sie nicht in Betracht, es musste mit der Hand sein. Und nicht nur das, es musste mit Füller sein, nicht mit Kugelschreiber. Krass. Sie waren Wort-Menschen und sie liebten schreiben und lesen und vielleicht liebten sie deshalb einander. Sie schrieben sich sogar, wenn sie beieinander waren. Dad saß an seinem Schreibtisch und Mimi in der Küche. Dann schrieben sie sich gegenseitig lange Briefe und, wenn sie ins Bett gingen, tauschten sie sie aus und lasen sie oder sie lasen sich gegenseitig vor und dann schliefen sie miteinander. In einer dieser Nächte bin ich entstanden. Mimi hat mir später den Brief geschenkt, den sie an diesem Tag Dad geschrieben hatte:

 

 

Mein Liebster,

die Erdbeerzeit hat begonnen, zum zweiten Mal, seit wir uns kennen. Weißt du noch, wie ich letztes Jahr im Hotelzimmer die Dessertschale verschüttete und sich die Erdbeeren und die Sahne über deine Hose ergossen? Wir kannten uns noch kaum. Ich habe die Farbe der Erdbeeren angenommen, du eher die Farbe der Sahne. Später behauptetest du, ich hätte das absichtlich gemacht, damit du die Hose ausziehen müsstest. Nein, mein Liebster, so gerissen bin ich nicht, jedenfalls nicht ganz, nur halb: Als du die Hose nämlich bereits ausgezogen hattest und ich damit ins Bad gelaufen war, um den Fleck raus zu wischen, ergriff ich die Gelegenheit und weichte die ganze Hose im Wasser ein. So, jetzt ist es raus, ich gebe es zu: Ich habe dich verführt. Und ich bereue es nicht, es war die Erdbeeren wert.

Langsam beginnt die Zeit, in der wir uns gegenseitig „weißt du noch?“ sagen und wir werden es mit der Zeit immer öfter tun und wir werden nie damit aufhören. Und vielleicht werden wir in neun Monaten „weißt du noch?“ sagen und heute Nacht meinen. Diese Nacht, die erste fruchtbare Nacht, seit ich die Pille abgesetzt habe, ohne es dir mitgeteilt zu haben. Verzeih Liebster, aber jetzt weißt du es ja. Und du hast die Wahl, was heute Nacht geschieht und in neun Monaten.

 

---

 

»Dann hat dein Vater dich ja doch haben wollen.«

»Mimi war viel gerissener, als sie zugab. Sie wusste genau, dass Dad im Grunde nur schwanzgesteuert war. Er hatte keine Chance, sich in dieser Nacht zu enthalten. Er hatte keine Wahl, Mimi gab ihm nur das Gefühl, dass er entscheiden würde. Eigentlich hat sie immer alles hingekriegt, was sie wollte, nur nicht mit Konfrontation, sondern mit Geduld und Ausdauer – und kleinen Tricks, so ein wenig hinten rum.«

»Das bewunderst du an ihr, ja?«

»Ich kann das nicht. Ich bin da eher wie Dad.«

 

---

 

In den ersten Jahren nach meiner Geburt war ziemlich wenig Geld da. Dad hatte nur unregelmäßig zu tun, ein paar Aufträge von Zeitungen und hier und da mal vom Fernsehen. Mimi hatte gleich wieder angefangen zu arbeiten, Teilzeit in der Lokalredaktion. Sie sagte, Teilzeit als Journalist sei eigentlich gar nicht möglich, aber sie tat es trotzdem. Auch wenn von Teilzeit nichts zu spüren war, immerhin konnte sie mich zu vielen Terminen mitnehmen, und irgendwo in einen Nebenraum verschwinden, um mir die Brust zu geben und manchmal gab sie mir auch die Brust, wenn alle zuguckten.

Eigentlich hätte sich Dad mehr um mich kümmern können, denn er hatte viel mehr Zeit als Mimi. Aber Kinder waren nicht wirklich sein Ding, solange man mit ihnen noch nicht Fußball spielen konnte. Um das Windelwechseln kam er nicht rum, aber die Brust konnte er mir nicht geben und mit dem Absaugen klappte das auch nicht so gut. Also war ich meistens bei Mimi. Für Dad ging das voll in Ordnung und er meinte, es sei wichtig, dass man Kindern möglichst lange die Brust gebe. Mimi war auch öko und deshalb sagte sie dazu nichts, aber sie verlangte von Dad, seinen Egotrip zu beenden und einen festen Job zu suchen.

Den fand er dann auch. Ein alter Studienfreund holte ihn zu sich in die Redaktion vom Hamburger Morgenblatt, Ressort Politik. Das war genau sein Ding, und mit Volker, dem Studienfreund, hat ihn sehr viel verbunden. Sie hatten als Studenten in derselben WG gewohnt und eine Rockband gegründet, mit der sie sogar ein paar Mal aufgetreten waren. Sie hatten auch gemeinsam gegen den Nato-Doppelbeschluss demonstriert, an Sitzblockaden vor amerikanischen Kasernen teilgenommen und Häuser besetzt. So was schweißt zusammen. Als sie dann in Hamburg in derselben Redaktion saßen, kamen sie sich vor wie Carl Bernstein und Bob Woodward. Auch wenn sie nicht arbeiteten, waren sie wieder viel zusammen. Sie gingen gemeinsam auf Swutsch und sie gründeten wieder eine Rockband. Dad dachte, es wäre eine enge Freundschaft gewesen.

 

---

 

»War es denn keine enge Freundschaft?«

Scheels demonstrative Naivität macht mich aggressiv. »Nein, war es nicht«, sage ich.

»Sondern?«

»Ein perfides Erschleichen von Vertrauen und ein tödlicher Hinterhalt.«

»Hm.«

 

---

 

Wir zogen nach Hamburg in eine Drei-Zimmer-Wohnung in Bahrenfeld. Von nun an ging Dad jeden Morgen aus dem Haus und Mimi war jetzt freie Journalistin und blieb meist bei mir und das Trinken wurde deutlich entspannter.

An die Berliner Zeit habe ich eigentlich keine Erinnerung mehr. Meine früheste Erinnerung überhaupt war, als wir schon einige Zeit in Hamburg gelebt hatten. Ich saß bei Mimi im Auto und wir fuhren nach Hause. Plötzlich wurde sie total hibbelig. Sie hielt an und wollte nicht weiterfahren und dann wollte sie wenden und zurückfahren, aber ein Polizist mit einem Motorrad kam an und sagte, das gehe jetzt nicht und sie müsse weiterfahren. Mimi sagte, dass ein kleines Kind, sie meinte mich, im Auto sei und dass sie deshalb nicht weiterfahren wolle. Aber der Polizist sagte, da könne man jetzt nichts machen und dass Mimi weiterfahren müsse. Dann sagte Mimi ›Bullenschwein‹ und dafür gab es später noch richtig Ärger, so viel Ärger, dass Mimi zu mir sagte, ich solle niemals ›Bullenschwein‹ sagen, jedenfalls nicht, wenn ein Bullenschwein in der Nähe ist. Mimi fuhr also weiter und zu mir sagte sie, ich solle zur Seite gucken, nein zur anderen Seite, oder besser nach unten oder noch besser die Augen schließen. Aber die Augen machten sich immer von selbst wieder auf. Und gerade, als sie sich wieder aufmachten, fuhren wir an einem großen Laster vorbei, der an allen Ecken blinkte. Neben dem Laster lag ein Fahrrad und unter dem Laster lag ein Junge. Und da, wo bei Menschen immer der Kopf ist, war bei dem Jungen nichts. Mimi fuhr noch ein wenig weiter, bis der Laster nicht mehr zu sehen war. Dann hielt sie an, kam zu mir auf die Rückbank und tröstete mich. Aber eigentlich tröstete ich sie. Der Junge hatte mich gar nicht so besonders beeindruckt. Ich konnte nur nicht verstehen, wie sein Kopf plötzlich verschwinden konnte. Aber Mimi sagte, dass der Kopf ganz normal da gewesen sei und dass ich mich verguckt hätte. Und dann heulte sie und umarmte mich so fest, dass ich auch heulte. Von da an hatte ich nachts manchmal böse Träume.

Doof fand ich auch, wie sich die riesige Mimi in ihrem kleinen Twingo zu mit auf die Rückbank quetschte. Obwohl wir zu zweit waren, hatten wir immer das kleine Auto und Dad fuhr allein im großen Passat. Dad und Mimi fanden sich super gleichberechtigt und besonders progressiv, waren aber zum Schluss doch nur Spießer mit langen Haaren, und selbst die wurden immer kürzer.

Einmal spielte ich im Hof hinterm Haus und Dad und Mimi riefen ein paarmal aus dem Küchenfenster, ich solle hoch kommen zum Mittagessen. Ich hatte gar keinen Hunger und eigentlich musste ich auch meinen Roller vor diesem ständig aus der Nase tropfenden Jungen von gegenüber verteidigen, aber ich bin trotzdem ganz schnell hoch gelaufen. Als ich ankam, waren sie mit dem Essen schon fertig, und Dad schrie, er lasse sich das nicht mehr länger von mir bieten. Dann sagte ich etwas und dann schallerte er mir eine. Zack. Dann fing Mimi an, mit Dad zu schimpfen und Dad sagte, ihm sei die Hand ausgerutscht und ich müsse das jetzt mit ihm aufarbeiten. Ich wollte aber nichts aufarbeiten und Hunger hatte ich sowieso keinen und jetzt schon gar nicht mehr und dann lief ich in mein Zimmer. Und: Nur Hände von Spießern rutschen aus. Is so.

 

Spießer waren sie auch, weil sie keine eigene Meinung hatten. Okay, Dad war politischer Journalist, da hatte er eine Meinung, aber das war mir damals nicht so klar und es war für mich auch überhaupt nicht wichtig und vor allem hatte ich seine Meinung auch gar nicht verstanden.

Gott war wichtig. Zu Gott hatte ich eine Meinung und Dad sagte, er hätte auch eine, aber eigentlich hatte er keine. Er sagte, er glaube nicht an Gott, aber er finde es voll in Ordnung, wenn ich es tun wolle, und ich könne mich sogar taufen lasse, wenn ich wolle, und später könnte ich zum Konfirmandenunterricht oder Kommunionsunterricht, ganz wie ich wolle. Ich wollte aber gar keinen Unterricht, wichtiger wäre gewesen, wenn Dad und Mimi auch an Gott geglaubt hätten, und ich konnte absolut nicht verstehen, wie jemand nicht an Gott glauben konnte. Jedenfalls, mit Dad und Mimi sprach ich nicht mehr über Gott, aber für mich blieb er wichtig.

Wichtig waren vor allem richtige Sachen, so Jungs-Sachen, besonders Fußball. Das konnte man spielen und auch gucken. Wir hatten St. Pauli und den HSV. Dad war für St. Pauli, denn er fand, dass die die cooleren Fans hatten, und zu denen wollte er gehören. Aber ich wurde nach ein paar Jahren HSV-Fan, weil die einfach besser Fußball spielten und coole Fans waren nicht wichtig, höchstens krasse Fans und die hatte der HSV. Dad ging mit mir dann zu den HSV-Spielen und nicht mehr zu St. Pauli, weil er fand, dass ich eine eigene Meinung haben sollte, aber er hatte keine.

 

Und Spießer waren sie, weil sie ihre Joints aufgaben, als Dad krank wurde. Das ist meine drittfrüheste Erinnerung. Wir waren in unserem Passat gemeinsam nach Berlin gefahren, um Freunde von Dad und Mimi zu besuchen. Dad hatte sich ein paar Tage frei genommen und wir hatten richtig gute Laune. Dad fragte mich, ob wir nach der Ankunft ein wenig bolzen wollten, es gebe da gleich um die Ecke einen Park und er habe extra einen Fußball mitgenommen. Klar wollte ich. Dann sangen wir ›HSV forever and ever‹. Ich konnte noch kein Englisch, ich war ja erst vier, und deshalb sang ich nicht so laut. Aber danach stimmte ich ›Hamburg meine Perle‹ an und da sang ich richtig laut, viel lauter als Dad und Mimi zusammen. Dann wollte Dad noch ›Lebenslang Grün-Weiß‹ singen, denn er war ja in Bremen aufgewachsen, und ›Das Herz von St. Pauli‹ wollte er auch singen, aber ich sang einfach weiter. Mimi, die in Berlin aufgewachsen war, interessierte sich nicht so sehr für Fußball. Deshalb kannte sie auch keine Berliner Fußballlieder und sang einfach mit mir mit. Dad hatte keine Chance.

Als wir angekommen waren, sind wir nicht zuerst zu den Freunden gefahren, sondern gleich in den Park. Mit unseren Jacken markierten wir die Torpfosten und Mimi stellten wir dazwischen. Dann versuchten Dad und ich abwechselnd den Ball ins Tor zu schießen, und der andere versuchte das zu verhindern. Mimi war als Torwart eine echte Niete, aber so weit kam ich normalerweise gar nicht. Ich gab mein Bestes, aber Dad war mir über. Jetzt rächte er sich für die Fußballlieder und er rächte sich grausam. Er lief um mich rum, an mir vorbei und über mich hinweg und immer hatte er den blöden Ball dabei, als wäre er an ihm festgewachsen. Dabei sang er ›Lebenslang Grün-Weiß‹. Ich wollte auch singen, aber ich hatte keine Puste mehr. Ein paarmal tat Dad dann doch so, als hätte ich ihm den Ball abgenommen, und er schimpfte und fluchte. Ich wusste, dass er nur so tat, als ob. Aber es war trotzdem gut. Einmal konnte ich ihm den Ball in echt abnehmen und dann sogar ein Tor schießen, während Mimi kreischte wie ein kleines Mädchen. Ich rief, sie solle sich nicht so anstellen und dass Fußball eben doch nichts für Mädchen sei. Dann merkte ich, dass Mimi gar nicht wegen des Tors kreischte, sondern wegen Dad, weil er auf dem Boden lag und zuckte. Ich musste an den Jungen ohne Kopf denken, aber Dads Kopf war noch da, das hab ich genau gesehen, und außerdem hatte der Junge nicht gezuckt. Aber trotzdem musste ich daran denken.

Am Abend waren wir noch immer nicht bei den Freunden gewesen, sondern saßen im Krankenhaus. Mimi sagte, Dad habe einen rasenden Puls gehabt. Und dann kam die Ärztin und erklärte, wie Dads Anfall in kompliziert hieß, und meinte, dass er das bekommen habe, weil er früher so viel gekokst hatte.

Nach dem Krankenhaus kam Dad für ein paar Wochen zur Kur. Von da an war er herzkrank. Früher hatte ich gedacht, dass krank sein gar nicht schlimm wäre, man schwitzt viel und hustet und nach einer Woche geht man wieder in die Kita. Aber Dad erklärte mir, dass es mit dem Herzen anders sei und dass er nie mehr ganz gesund werde und immer herzkrank bleibe und auch nie mehr in die Kita gehe und immer Pillen schlucken müsse. Er sollte keine Joints mehr rauchen und sich nicht aufregen und vor allem: Ich sollte ihn nicht aufregen. Das war natürlich nur Erpressung – Erziehung nannten sie es – aber das durchschaute ich damals noch nicht. Ich hatte ihn plötzlich mehr lieb als vorher und Mimi hatte ihn auch mehr lieb, jedenfalls tat sie so, aber er hatte uns weniger lieb, jedenfalls tat er so. Ich kam zu der Überzeugung, dass es eine ganz bestimmte Menge Liebhaben für uns gab und dass sie jetzt nur anders verteilt war als vorher.

 

Dad war von da an öfter unterwegs. Und er hatte nicht mehr so viel Zeit für mich und auch nicht für die Mimi. Früher war er tagsüber im Büro oder zu wichtigen Terminen bei den Politikern in Berlin oder sonst wo, aber morgens früh und vor allem an den Wochenenden war er bei uns gewesen.

 

---

 

»Und das wurde weniger, als er krank geworden war?«

»Ja.«

»Was genau?«

 

---

 

Zum Beispiel: Seit ich vier war, hatte er mich regelmäßig zum Fußball mitgenommen, also zum HSV, nicht zu St. Pauli. Das wurde weniger. Dabei war Fußballgehen echt toll gewesen. Wir sangen ›HSV forever‹ und danach sang Lotto King Karl ›Hamburg meine Perle‹ und alle, alle, alle sangen mit, vielleicht nicht die aus Bayern oder Schalke oder so, aber sonst alle. Und Dad erklärte mir, warum es so wichtig war, zu Hause zu gewinnen, und ich lernte, dass das Volksparkstadion ein Zuhause war.

Wenig später hieß das Volksparkstadion nicht mehr ›Volksparkstadion‹, sondern ›AOL Arena‹. Dad erklärte mir, dass das für AOL sehr wichtig gewesen sei und dass AOL dem HSV deshalb viel Geld gegeben habe. Viele Jahre hieß das Stadion also ›AOL Arena‹ und dann hieß es ›HSH Nordbank Arena‹, aber das war für die HSH Nordbank nicht so wichtig, deshalb hieß es schon kurz darauf ›Imtech Arena‹. Außer dass überall die Schilder ausgewechselt werden mussten, hat sich nicht viel geändert. Ich lernte, dass das Zuhause das Zuhause bleibt, auch wenn es ständig den Namen wechselt. Und ich lernte, dass ein Dad ein Dad bleibt, auch wenn er sich weniger um einen kümmert.

Jedenfalls, zum HSV gingen wir kaum noch, als Dad krank war.

 

Früher hatte Dad mich auch manchmal mitgenommen, wenn er sich mit Volker und der Band zum Proben traf. Sie waren vier: Dad, Volker, Jo und Golem. Jo hieß eigentlich Josef und Golem hieß Reinhard, aber er kam aus Lemgo und er sprach nur sehr wenig, deshalb nannten ihn alle Golem. Sie waren die ›Altona Street Combo‹ und machten gute Mucke, behaupteten sie jedenfalls. Dad spielte E-Gitarre, Volker Bass, Jo Gitarre und Keyboard und Golem Trommeln – Drums sagte er dazu. Gesungen haben sie alle, denn das konnte keiner so richtig. Sie trafen sich bei Volker im Keller, obwohl das in Lurup war und nicht in Altona. Aber Volker sagte, deswegen würde er nicht umziehen, und Dad meinte, wenn sie ›Lurup Street Combo‹ hießen, bekämen sie nie einen Auftritt. Volker hatte extra für die Proben Kissen und dicke Styroporplatten an die Wände geklebt. Wegen der Nachbarn, erklärte er mir. Aber das verstand ich erst, als ich sie zum ersten Mal spielen hörte: ›Hamburg meine Perle‹, extra für mich und obwohl Dad, Jo und Golem eigentlich St.-Pauli-Fans waren. Das war tierisch laut, so laut, dass ich fast heulen musste. Aber ich riss mich zusammen, denn sie wollten mir ja eine Freude machen, und ab dem zweiten Mal stopfte Dad mir Watte in die Ohren. Dadurch wurde die Musik viel besser. Und wenn ich die Watte mal in den Ohren vergessen hatte, bewirkte es auch, dass ich keine Schimpfe bekam, wenn ich auf eine Anweisung nicht gleich reagierte. Jedenfalls manchmal.

Dads E-Gitarre war unheimlich schwer, eine schwarz glänzende Gibson Les Paul. Es gebe keine bessere, sagte er. Eine E-Gitarre brauche immer einen Verstärker, sonst würde man sie nicht hören, erklärte Dad und strich lautlos über die Saiten. Dann steckte er das eine Ende eines schwarzen Kabels in die Gibson und das andere Ende in einen großen Lautsprecher mit Knöpfen dran. Das sei der Verstärker, ein Röhrencombo von Marshall.

Ich fragte, wieso Röhrencombo – wieso Combo?

»Weil es eine Kombination aus Verstärker und Lautsprecher ist«, antwortete Dad. Und dann tat er sehr ernst. »Du wirst jetzt etwas ganz Wichtiges lernen, etwas, das ein Gitarrist unbedingt von Anfang an wissen muss, nämlich, wie man eine E-Gitarre anschließt: Zuerst das Kabel in Gitarre und Verstärker stecken, dann unbedingt – ganz, ganz unbedingt – eine Hand auf die Seiten legen und erst danach den Verstärker einschalten. Wenn man das falsch macht, kann es ganz schlimme Aua an den Ohren geben.«

 Ich schaute ihn an, als hätte ich gerade in die Hose gemacht.

Er begann zu lachen und sagte, das sei eigentlich auch nicht so schlimm, denn ich würde ja sowieso nicht hören.

Dann spielten sie ihre Mucke und ich hörte zu. Am liebsten wäre mir ›Hamburg meine Perle‹ gewesen, aber das wollten sie nicht noch mal spielen, ›HSV forever‹ auch nicht. Aber was sie spielten, war auch ganz okay. Nach einiger Zeit war es gar nicht mehr so laut und ich nahm die Watte aus den Ohren, aber Dad schrie etwas, das ich nicht verstand, und pfropfte sie mir wieder rein. Ich mochte die Mucke, am liebsten die große Trommel – Bassdrum, sagte Golem dazu. Man hörte sie nicht nur, sondern man fühlte sie auch. Und ich mochte es, wenn Golem sang, es klang ein wenig wie der Junge, der sich ein paar Tage vorher in der Kita das Knie verdreht hatte.

Abends spielte Dad mir die Mucke oft noch von CD oder von einer großen, schwarzen Schallplatte vor. Das klang wirklich sehr anders, sehr, sehr anders. Aber manchmal erkannte ich was wieder und mir wurde klar, dass die ganze Mucke schon viel früher von ganz anderen Leuten gespielt worden war. Dad erzählte mir, dass das die Mucke war, die er gehört hatte, als er noch zur Schule ging. Aber es gefiel mir trotzdem, am meisten die Version von CD und Platte, aber die von der ›Altona Street Combo‹ war auch ganz okay. Ich wurde zum jüngsten Fan aller Zeiten von Deep Purple, Genesis und Jethro Tull.

Einige Zeit tat ich mich schwer zu verstehen, wieso die ›Altona Street Combo‹ und Dads Röhrencombo beides Combos, aber doch total verschiedene Dinge waren. Ich lernte, dass nicht gleich sein musste, was gleich hieß. Und vom Volksparkstadion hatte ich ja schon gelernt, dass etwas gleich bleiben kann, auch wenn es ständig anders heißt. All das lehrte mich, dass Worte etwas sehr Dehnbares waren. Dad hatte einmal zu mir gesagt, das liege daran, dass auch die Erinnerung sehr dehnbar sei.

 

Jedenfalls, all das wurde immer seltener, nachdem Dad krank geworden war, und hörte sogar für einige Zeit ganz auf. Überhaupt, alles hörte auf, auch Dad hörte auf. Er kam nicht mehr nach Hause.

Ich fragte Mimi, wo er jetzt sei.

Sie saß auf dem Sofa und nahm mich in den Arm. »Er wohnt in einer anderen Wohnung und schläft in einem anderen Bett«, antwortete sie.

Ich fragte, warum.

»Weil er seine Freiheit sucht. Menschen jagen oft ihrer Freiheit hinterher, wenn sie schwer krank geworden sind.«

»Aber wenn er nicht nach Hause kommen kann«, sagte ich, »dann ist er ja gar nicht frei.«

Mimi schaute mich an, als wollte sie sagen, dass ich das nicht verstünde. »Du bist sehr schlau, mein kleiner Muck«, sagte sie stattdessen. »Dad wird das sicher auch noch kapieren und dann kommt er bestimmt wieder zurück.« Dann weinte sie.

Ich kuschelte mich an sie, um sie zu trösten, ganz dicht, und sie hielt mich total fest, ich bin fast erstickt.

Dann konnte ich mich ein wenig befreien und ich sagte zu ihr, dass ich immer freiwillig bei ihr bleiben würde.

Sie lächelte ein wenig und ich küsste ihre nassen Augen, so wie sie es immer getan hatte, wenn sie mich tröstete. So schliefen wir beide auf dem Sofa ein. Spät in der Nacht wachte ich auf, als Mimi mich auszog und mich in mein Bett bringen wollte.

»Aber ich muss doch bei dir bleiben, damit ich dich weiter trösten kann«, sagte ich.

Also legte sie mich in ihr Bett, zog sich aus, legte sich dazu und dann kuschelten wir uns zum Trost. Danach trank ich noch ein wenig von ihrer Titti. Ich hatte eigentlich gar keinen Durst, aber es war ein bisschen wie kuscheln. Dann schliefen wir beide wieder ein.

 

---

 

»Wie alt warst du da?«

»Vier ... ein halb, etwa.«

»Verstehe.«

»Was?«

»Schon gut.« Pause. »Wo war denn dein Vater?«

»Sie haben es mir nie erzählt, aber ich bin mir inzwischen ziemlich sicher, dass er eine andere Frau kennengelernt hatte. Ein paar Monate war er weg, kam zwei- oder dreimal zu Besuch und roch dann immer nach fremder Frau.«

»Hast du ihn dafür gehasst?«

»Nein.«

»Sicher nicht?«

»Er war mein Vater!«