Das gefälschte Lächeln

Roman

313 S., Softcover, eBook, Gmeiner Verlag

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Kay Jacobs:

Das gefälschte Lächeln

Leseprobe

© 2017 - Gmeiner Verlag GmbH

 

 

 

Erster Teil:

Was nicht war

 

Die Geschichte, die hier erzählt wird, ist unwahr. Nicht etwa in der Weise unwahr, dass sie frei erfunden und Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen nur zufällig wären, sodass man nicht wissen kann, ob sie nicht vielleicht doch wahr ist. Sie ist vielmehr in der Weise unwahr, dass sie nicht frei erfunden wurde und Ähnlichkeiten nicht nur zufällig sind, dass sie sich aber unmöglich genau so zugetragen haben kann. Aber fast.

 

 

 

1

 

Dreierlei stand für Hermann Weber fest: Erstens, es würde der größte Kunstraub werden, den es je gegeben hatte. Zweitens, er selbst würde sich vollständig im Hintergrund halten. Drittens, er würde reich werden. Schon seit Wochen hatte er kaum an etwas anderes denken können als an seinen Plan.

Jetzt saß er fast eine halbe Stunde auf einer Parkbank in den Jardins du Trocadéro, spielte ein wenig mit seinem Spazierstock, drehte an seinem Victor-Emanuel-Bart und beobachtete den Kerl gegenüber mit der aktuellen Ausgabe des Le Figaro, gefaltet auf Seite fünf, mit einem Eselsohr in der Ecke.

Von Kunst verstand Weber nichts. Das musste so sein. Wäre er als Kunstliebhaber bekannt, würde man sich wegen häufiger Besuche im Louvre vielleicht sogar an sein Gesicht erinnern, das wäre viel zu gefährlich. Womöglich würde er bei seinem Vorhaben auch noch mit Skrupeln zu kämpfen haben oder eines Tages könnte der Wunsch entstehen, sich anderen Kunstliebhabern zu offenbaren. Nein, ein Kunsträuber durfte auf keinen Fall ein Kunstliebhaber sein.

Auf die Idee, ein Gemälde zu rauben, war Weber gekommen, nachdem er ein Jahr zuvor, im Sommer 1910, auf einer Reise nach Florenz halbwegs gelangweilt durch die Uffizien geschlendert war. Beim Anblick von Botticellis ›Geburt der Venus‹ hatte er sich gefragt, was wohl der monetäre Wert eines Gegenstands sein mochte, der nie zum Kauf angeboten werden würde. Er wusste es. Erst Tage später war ihm der bahnbrechende und im Grunde recht naheliegende Gedanke gekommen, dass sich vielleicht doch irgendwann Umstände ereignen könnten, die zum Handel mit einem als unhandelbar geltenden Gegenstand führen würden.

Der Kerl gegenüber war sichtlich nervös. Er schaute den Weg entlang nach rechts, dann nach links, stand von seiner Parkbank auf, setzte sich wieder, drehte sich ruckartig um, blickte nach hinten, dann wieder nach rechts. In der einen Hand knitterte er die Zeitung, in der anderen seine Arbeitermütze. Zwischendurch steckte er sich immer wieder eine Gitanes an, inzwischen die vierte. Es wurde Zeit. Weber erhob sich von seiner Bank, schritt gemächlich in Richtung Eiffelturm, machte einen weiten Rechtsbogen und näherte sich dem Kerl schließlich von hinten.

»Monsieur Peruggia?«, fragte er.

Der Kerl fuhr herum und stand überhastet auf, als wäre er gerade bei einem Diebstahl überrascht worden. »Oui«, antwortete er und machte einen Diener.

»Hermann Weber.« Weber zog sein Exemplar des Le Figaro aus dem Mantel, gefaltet auf Seite fünf mit einem Eselsohr in der Ecke.

»Nehmen Sie wieder Platz«, sagte Weber auf Französisch, die einzige Sprache, die in Paris nicht auffiel und in der er sich mit Peruggia leidlich würde verständigen können.

Peruggia setzte sich und Weber nahm daneben Platz.

»Sie müssen entschuldigen, dass ich Sie warten ließ«, fuhr Weber fort. »Ich wollte mir erst einen Eindruck von Ihnen verschaffen.«

»Selbstverständlich.«

Der Eindruck fiel nicht gerade positiv aus. Peruggia war nervös, vielleicht zu nervös, und zu unterwürfig. Weber mochte beides nicht. Andererseits hatte Peruggia unverzichtbare Fähigkeiten und Kenntnisse. Wenn Weber seinen Plan nicht mit ihm verwirklichte, würde er ihn vielleicht gar nicht verwirklichen können.

»Nehmen Sie zunächst einmal das hier.« Weber zog einen 100-Franc-Schein aus seiner Tasche und hielt ihn Peruggia hin. Das musste in etwa der Monatslohn für einen einfachen Handwerker sein. »Da, nehmen Sie. Er gehört Ihnen.«

»Aber Monsieur, ich kann doch nicht ...«

»Nehmen Sie!«

Das war ein Befehl und Peruggia gehorchte.

»Sie können das Geld behalten, auch wenn wir nicht miteinander ins Geschäft kommen sollten. Ich fordere eine einzige Gegenleistung: Sie dürfen niemandem von mir und unserem Treffen erzählen. Niemandem, niemals! Haben wir uns verstanden?«

»Jawohl. Danke.«

»Ich gehöre einer nicht sehr zimperlichen Organisation an. Sie würden es bitter bereuen, wenn Sie jemals gegen Ihre Verschwiegenheitspflicht verstießen.« Diese Worte kamen wie Rasierklingen aus Webers Mund, während er gelangweilt durch die Gegend schaute. Dabei war er überhaupt nicht gelangweilt, eher das Gegenteil. Er gehörte auch keiner Organisation an, er war Einzelkämpfer, nicht einen einzigen Mitstreiter hatte er. Peruggia hätte das Geld nehmen und ihn später bei der Polizei denunzieren können. Ihm selbst würde dann bestenfalls die Flucht bleiben.

»Sie können sich auf mich verlassen.« Peruggia steckte das Geld weg, seine Bewegungen wurden ruhiger. Er schien begriffen zu haben, dass er Akteur in einem Spiel war, in dem man Gelassenheit zumindest vortäuschen musste.

»Was für eine Organisation ist es denn?«, fragte er.

»Eine deutsche Organisation. Mehr brauchen Sie darüber nicht zu wissen.« Weber ließ eine Pause, die zum heiklen Teil des Gesprächs überleitete.

»Sie wurden mir als italienischer Patriot geschildert.« Wurde er nicht, eher als Kleinkrimineller, aber das hätte jetzt nicht gepasst. »Meine Organisation fragt sich: Was macht einer wie Sie in Frankreich?«

»Tja, das Geld, das Geld«, antwortete Peruggia larmoyant. »Ich komme aus einem kleinen Dorf in der Lombardei. Da gibt es keine Arbeit, da muss man in die Fremde.«

»Ich habe mich über Sie erkundigt: Ihr Geburtsort heißt Dumenza, drei Kilometer östlich vom Lago Maggiore, ein Kilometer westlich von der Schweizer Grenze. Ein Viertel der erwachsenen männlichen Bevölkerung lebt vom Schmuggel, davon sitzt ein Viertel im Knast. Im Falle einer Generalamnestie würde in Dumenza Wohnungsnot herrschen.«

»Wer redet so?«

»Das tut nichts zur Sache.«

Ein ehemaliger Schulkamerad von Peruggia und jetziger Schmuggler redete so. Weber hatte diesen Mann vor einiger Zeit – sagen wir: beruflich – kennengelernt und er war es gewesen, der Peruggia empfohlen hatte.

»Ein Italiener wird in Frankreich nicht gerade freundlich behandelt, nicht wahr?« Weber knüpfte wieder an das vorherige Thema an. »Die Franzosen überfallen ihre Nachbarländer, beuten sie aus, schänden ihre Frauen und rauben ihre Kunstgegenstände. Und wenn man ihr Land besucht, behandeln sie einen wie Abschaum.« Weber schaute Peruggia in die Augen. »Ich bin Deutscher. Wir sind Verbündete.« Weber spielte auf den Dreibund zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien an, dem die Entente zwischen Großbritannien, Frankreich und Russland gegenüberstand. Weber hoffte, dass Peruggia die Anspielung verstand.

Nach einer Weile erhob sich Weber von der Parkbank. »Gehen wir ein Stück.«

Hastig steckte Peruggia sich eine Gitanes an und folgte.

»Würden Sie bitte ...«, sagte Weber und deutete auf die Zigarette.

»Aber natürlich.« Peruggia kramte seine Zigarettenschachtel aus der Jackentasche und hielt sie Weber hin.

»Nein, ich bin Nichtraucher. Sie sollen den Stängel ausmachen.«

Peruggia nahm einen betont lässigen Zug von seiner Gitanes und schnippte sie anschließend ebenso lässig weg. Damit waren die Verhältnisse geklärt: Man gab sich entspannt und der Chef war Weber.

»Sie haben im Louvre gearbeitet, wie ich höre. Was haben Sie da gemacht? Alte Werke restauriert?«

»Nicht direkt. Ich habe die Schutzverglasung für die Gemälde hergestellt. Wie Sie sicher wissen, hat es seit einigen Jahren in mehreren Museen Säureanschläge gegeben. Davor hat man im Louvre Angst.«

»Aber eigentlich sind Sie Künstler, nicht wahr? Maler.«

Das war Peruggia nicht, sondern Anstreicher. Er bevorzugte den Begriff »Dekorationsmaler« und behauptete gern, sich auch mit Kunstmalerei zu beschäftigen, was allerdings mächtig übertrieben war. Weber wusste das, aber er erwartete keinen Widerspruch und Peruggia schwieg.

»Deshalb zog es Sie in den Louvre, zu den alten Meistern. Es muss sie geschmerzt haben, jeden Tag die großen italienischen Werke zu sehen, die von den Franzosen geraubt wurden.«

»Ja, das ist wohl wahr«, seufzte Peruggia.

Im Louvre gab es keine aus Italien geraubten Kunstwerke mehr – die in der napoleonischen Zeit verschleppten Gemälde und Statuen waren längst zurückgegeben worden. Doch das wusste Peruggia offenbar nicht.

»Eine Schande ist das«, bekräftigte er seine Äußerung.

»Aber Sie tun nichts dagegen. Sie nehmen es so hin.«

»Was soll ich denn machen? Ich kann doch nicht einfach ein Gemälde von der Wand reißen und mitnehmen.«

»Nein? Wieso nicht?«

Peruggia zog die Augenbrauen hoch und schaute in die Ferne. Er war ein einfacher Mann ohne Bildung, aber offensichtlich besaß er eine Art natürliche Schläue, den Hang zur Verschlagenheit, den man der ungebildeten Landbevölkerung gern nachsagte. Weber konnte sehen, wie es in Peruggias Kopf arbeitete.

»Von welchem Gemälde sprechen wir?«, fragte Peruggia nach einiger Zeit.

»Du entscheidest.« Das war nicht ungefährlich. Im Grunde kam nur ein Gemälde des Louvre in Betracht, nur ein Gemälde von italienischer Herkunft würde einen wirklichen Spitzenpreis erzielen. Doch es war nicht sicher, dass der ungebildete Bergbauer Peruggia gerade dieses Gemälde wählen würde.

»La Gioconda, die Mona Lisa«, sagte Peruggia feierlich und dann noch mal: »die Mona Lisa.«

Weber nickte und in Peruggias Kopf arbeitete es weiter.

»Und welche Rolle spielt Ihre Organisation dabei?«

»Wir helfen dir, das Gemälde an seinen angestammten Platz nach Italien zurückzubringen. Wenn du auf eigene Faust versuchst, es dem italienischen König in die Hand zu drücken, werden sie dich verhaften und das Bild behalten. Die Rückgabe muss vorbereitet werden und meine Organisation hat die notwendigen Verbindungen.«

»Aber wofür brauchen Sie mich? Warum macht Ihre Organisation das nicht gleich allein?«

»Ich sagte es schon: Wir sind Verbündete, wir helfen dir bei deinem legitimen Vorhaben zum Wohle des italienischen Volkes, wenn es denn dein Vorhaben ist. Wenn du nicht willst, dann eben nicht.«

Weber ließ seine Worte eine Weile wirken. Dies war der Moment, in dem sich alles entscheiden würde. Wenn Peruggia jetzt auf den Zug aufsprang, würde er drauf bleiben, aber er zögerte noch. Weber hatte die Gesprächsführung sorgfältig vorbereitet, die geheimnisvolle Organisation, die großzügige Geldspende, der Appell an Peruggias Patriotismus, schließlich der Wechsel zum jovialen Du, während Peruggia standesgemäß beim Sie bleiben musste. Peruggia war reif, das spürte Weber. Es fehlte nur noch ein kleiner Schups.

»Sie werden dich zum Nationalhelden machen, mein Lieber. Du wirst berühmt werden. Und reich.«

Bei dem letzten Wort zuckte es um Peruggias Augen. Er war auf den Zug gesprungen. Noch schwieg er, aber Weber wusste, dass er ihn für sich gewonnen hatte.

»Ich muss jetzt gehen«, sagte Weber, während er auf seine Taschenuhr schaute. »Denk noch einmal drüber nach. Wir treffen uns morgen. Gleiche Zeit, gleicher Ort.«

Er klopfte Peruggia väterlich auf die Schulter, drehte sich um und ging, während Peruggias Fantasie begann, durch künftigen Ruhm und Reichtum zu taumeln. Er war aufgesprungen. Da war Weber sich sicher.

 

Vielleicht nicht ganz sicher. Als Weber die Treppen zum Palais du Trocadéro erreicht hatte, versteckte er sich hinter einem Mauervorsprung und nahm eine 23-stündige Observierung auf. Er beobachtete jeden Schritt, den Peruggia tat, taxierte jede Person, mit der er in Kontakt trat, und schätzte jede Handlung ein, die er vornahm. Er folgte ihm zu seiner Arbeitsstelle, anschließend nach Hause in die Rue de l’Hôpital Saint-Louis, am nächsten Morgen wieder zur Arbeit, zwischendurch gönnte er sich für vier Stunden einen kurzen Schlaf in seinem Hotelzimmer. Hätte es nur die Andeutung eines Umstandes gegeben, der an Peruggias Verschwiegenheit zweifeln ließ, wäre Weber zum nächsten Treffen nicht erschienen. Aber es gab einen solchen Umstand nicht. Sie trafen sich wieder, zur gleichen Zeit am gleichen Ort.

»Bonjour, mein Lieber! Hast du dich entschieden?«

»Ja, Monsieur. Ich mach es.« Peruggia versah seine Stimme mit einem Beben, das die historische Bedeutung seiner Entscheidung erahnen ließ.

»Du bist ein wahrer Patriot«, bebte Weber zurück.

Schweigend und ein wenig ergriffen gingen sie nebeneinander her.

»Hast du dir schon überlegt, wie du es machen willst?«

»Am besten, ich warte bis August. Dann sind die großen Ferien, ganz Paris ist im Urlaub oder auf dem Land zur Erntehilfe. Die Wärter im Louvre haben Minimalbesetzung.«

»Musst du besondere Sicherheitseinrichtungen überwinden?«

»Nein, Monsieur. Das Gemälde hängt einfach an der Wand. Oben zwei Haken, unten zwei Schrauben als Abstandshalter, das ist alles.«

»Dann wartest du einfach einen unbeobachteten Moment ab, schnappst dir die Mona Lisa, rollst sie ein und trägst sie unter deinem Kittel hinaus. Ein genialer Plan.«

»Ja Monsieur. Also, nicht ganz. Das Bild ist auf Holz gemalt, man kann es nicht einrollen. Ich muss den Kittel drüber werfen und es unter dem Arm raustragen. Das könnte vielleicht heikel werden.«

»Auf Holz. Ja, natürlich. Ich vergaß.« Auch das stimmte nicht ganz, wie so vieles nicht ganz stimmte, was Weber sagte. Er hatte nicht vergessen, dass die Mona Lisa auf Holz gemalt war, er hatte es nie gewusst.

»Heikel«, sagte er und rieb sich nachdenklich das Kinn, »durchaus heikel.« Doch auch ihm fiel keine bessere Vorgehensweise ein. Dann musste es so gehen. Wenn Peruggia bei dem Raub ertappt werden sollte, wäre schlimmstenfalls Webers investiertes Geld dahin. Zu ihm selbst führte keine Spur. Hermann Weber war natürlich nicht sein richtiger Name, der Victor-Emanuel-Bart war ebenfalls nicht echt und auch nicht die Haarfarbe.

»Du wirst es schon schaffen. Du wirst ein Held werden. Sie werden dich noch in hundert Jahren feiern und Bücher über dich schreiben.«

Peruggia schaute Weber entschlossen an. »Ich mach es nur für mein Volk.«

»Selbstverständlich«, antwortete Weber und klopfte Peruggia auf die Schulter. Doch jetzt genug des Pathos. »Du wohnst in der Rue de l’Hôpital Saint-Louis, Nummer fünf?«

»Ja, Monsieur. Nur ein bescheidenes Zimmer unterm Dach.«

»Steht dein Name an der Tür?«

»Ja.«

»Und hast du dort eine Möglichkeit, das Bild zu verstecken?«

»Einen Wandschrank.«

»Gut. Deponiere es dort. Nach dem Raub wird es großes öffentliches Aufsehen geben. Verhalte dich in dieser Zeit unauffällig, gehe ganz normal deiner Arbeit nach und tu, was du immer tust. Ich werde warten, bis sich die Öffentlichkeit beruhigt hat, dann nehme ich Kontakt zu dir auf und wir besprechen das weitere Vorgehen.«

»Wie kann ich Sie erreichen?«

»Gar nicht.«

Peruggia schaute Weber missmutig an.

»Du darfst nicht in Verdacht geraten. Es wäre viel zu gefährlich, wenn man dich mit einem Deutschen sieht.«

»Aber wenn es dringend ist?«

»Dann gibst du im Le Figaro eine Kleinanzeige auf. Schreib: ›Eselsohr auf Seite fünf.‹ Am folgenden Tag treffen wir uns um zwölf. Hier im Jardins du Trocadéro.«

Peruggia fügte sich und wie zur Belohnung zog Weber zwei Geldscheine aus seinem Portemonnaie.

»Hier sind noch einmal 200 Franc, für deine Unkosten. Du zahlst sie mir zurück, wenn du reich bist.«

Peruggia nahm zögerlich die Scheine an. Dann verabschiedeten sie sich mit einem leisen, aber entschlossenen »Viva l’Italia« und einem festen Händedruck.

Die Rückzahlungspflicht war Webers letzter genialer Schachzug, Peruggia an sich zu binden. Jetzt würde Peruggia sich sicher sein, dass Weber ihn unterstützen und nicht einfach fallen lassen wollte.

 

 

 

 

2

 

Hamburg im April 2015. Die letzten Tage hatten eine Ahnung von Frühling in die Stadt geweht. In den Vorgärten schwollen die Knospen der Magnolien und um die Alster herum saßen die Menschen auf den Parkbänken und in den Straßencafés. Die einen warfen ihre Jacken weg und rissen die Hemden auf, als dürfe kein Kleidungsstück den erfrischenden Windhauch behindern, während die anderen dem Wechsel der Jahreszeiten noch nicht trauten und schwitzend in ihren Winterjacken verharrten. Daran war der April zu erkennen.

»Aber Junge, so warte doch wenigstens, bis ich die Stullen fertig habe.«

»Ich brauche wirklich kein Pausenbrot mitzunehmen, Mama. Wenn ich Hunger bekomme, kann ich mir bestimmt irgendwo etwas zu essen kaufen.«

»Die Geschäfte haben doch zu, Junge. Es ist nach acht. Haben denn die anderen Herren nicht auch alle etwas mit?«

»Nein, niemand.«

»Sie haben aber sicher anständig zu Abend gegessen.«

»Das weiß ich nicht, Mama. Ich habe jetzt wirklich keine Zeit mehr.«

»Hetze ist nicht gut für dein Magengeschwür. Und für die Aufklärungsquote auch nicht.«

Die Mutter drückte dem Sohn eine Brotdose in die Hand. »So, jetzt lauf los und jag Verbrecher.«

Kriminalhauptkommissar Matthias Unger hatte sich ausbedungen, ausschließlich übers Handy benachrichtigt zu werden, solange seine Mutter bei ihm zu Gast war. Ihre Wohnung wurde gerade renoviert und so hatte sie sich für zwei Wochen bei ihrem Sohn in Altona einquartiert. Eine schreckliche Woche war bereits um und in dieser Zeit hatte die Zentrale fünfmal auf dem Festnetz angerufen. Jedes Mal war die Mutter an den Apparat gegangen und hatte dann allerlei Details durcheinandergebracht.

»Die Zentrale soll nicht auf dem Festnetz anrufen und die Olle soll nicht rangehen, wenn es klingelt. So schwer ist das doch nicht«, raunte Unger, als er die Treppe runterhastete. Irgendwo am oder im Elbtunnel sollte es sein. Die Fahrtrichtung, welche Röhre und ob Norderelbe oder Süderelbe, das wusste die Mutter alles nicht mehr so genau, eigentlich gar nicht. Unger lenkte seinen unglaublich umweltfreundlichen Passat Diesel auf die A 7 Richtung Süden und fragte über Handy bei der Zentrale nach. So erfuhr er, dass er in die Elbchaussee 349 musste. Vor dem Elbtunnel hatte er keine Möglichkeit mehr umzukehren.

 

Nach einer halben Stunde und einem Umweg über Altenwerder war Unger in der Elbchaussee angelangt. Von Weitem konnte er die Einsatzfahrzeuge erkennen, auf die Hausnummern brauchte er nicht zu achten. Die Elbchaussee gehörte seit Langem zu den feinsten Adressen in Hamburg. Industrielle, Reeder, reiche Kaufleute, wer in traditionellem Sinn etwas auf sich hielt, hatte hier eine Villa mit riesigem Parkgrundstück, umringt von hohen Mauern und Hecken. Keiner der Anwohner parkte sein Auto auf der Straße, die Grundstücke verfügten über breite Auffahrten, Stellflächen und Mehrfachgaragen. So hatten die Uniformierten ausreichend Gelegenheit, ihre Fahrzeuge unauffällig und ohne Verkehrsbehinderung auf der Zufahrt oder zumindest am Straßenrand abzustellen, taten sie aber nicht. Die Hamburger Polizei hatte sich angewöhnt, ihre Präsenz zu zeigen, wo es ging, auch mit den Autos und am liebsten mit Blaulicht.

Unger stellte sein Auto am Straßenrand ab. Rot-weiße Absperrbänder geleiteten ihn über eine kurze, von mannshohem Kirschlorbeer gesäumte Auffahrt zu einer gepflegten Gründerzeitvilla, vor der fleißige Männchen in Tyvek-Anzügen unter riesigen Scheinwerfern Spuren sammelten. Auf dem Türschild stand nur ein Name, wie es bei einem solchen Anwesen vor hundert Jahren noch üblich gewesen war, heutzutage hätte man dort eher vier große Eigentumswohnungen eingerichtet. Im Inneren wartete eine repräsentative Diele mit Stuckdecke und Marmorboden. Ein uniformierter Kollege wies Unger den Weg ins Untergeschoss.

Professor Dr. Konstantin Elmenthal, Direktor des Rechtsmedizinischen Instituts, stand neben einer Leiche und einer Blutlache und zog gerade seine Einweghandschuhe aus, als Unger die Treppe herunterstieg.

»Ah, die Rechtsmedizin ist auch schon da.« Ungers Stimme klang ungewollt gequält. Er freute sich regelmäßig nicht, wenn er Elmenthal sah. Der Mann mochte fachlich etwas draufhaben, aber er war ein eitler Fatzke, einer, der klassische Musik hörte und Rotwein trank statt Bier.

»Ja, nachdem ich vorhin angerufen wurde, habe ich heute ausnahmsweise auf eine Spazierfahrten durch den Elbtunnel verzichtet.«

Woher wusste der das jetzt? Besser nicht nachfragen.

»Hallo, Chef«, klang eine junge weibliche Stimme von hinten. »Ich hatte noch gar nicht mit Ihnen gerechnet.«

Nicht darauf eingehen.

»Hallo, Monique. Wer war der Tote?«

»Carl Werner Mackenbach, 73, lebte hier allein, seit seine Frau gestorben ist. Zwei erwachsene Kinder, wohnen beide in Hamburg. Der Mann war seines Zeichens Industrieller und Kunstliebhaber.« Monique machte eine Handbewegung, mit der sie den Raum präsentierte wie ein Bühnenbild. An den Wänden hingen Ölgemälde und auf Stelen thronten Vasen und Bronzestatuen. Von der Decke hängende Strahler waren auf die Exponate gerichtet und in der Mitte des Raumes standen zwei schwere Ledersofas. Ohne diese Sofas hätte man den Eindruck gewinnen können, dass man sich in einem Museum befand, mit ihnen war aber klar, dass es sich um eine private Kunstsammlung handelte.

»Wir hatten immer Kartoffeln im Keller«, sagte Unger, als er den Raum begutachtete.

»Das ist kein Keller, das ist ein Souterrain«, entgegnete Elmenthal.

»Aha. Ich wollte schon immer mal wissen, wie so einer lebt«, entfuhr es Unger. Ein wenig Verachtung für übertriebenen Luxus schwang mit.

»Also ... dieser Satz ist nicht ganz korrekt«, widersprach Elmenthal. »Hier sehen Sie: tot. Der lebt nicht mehr.«

»Aha.«

»Er wurde erschlagen, offenbar damit.« Elmenthal wies auf ein einseitig bemaltes Stück Holz, das neben der Leiche auf dem Boden lag.

»Ist das nicht die Mona Lisa?«, fragte Unger.

»Die linke Hälfte. Die andere liegt dort. Offenbar beim Schlag zerbrochen. Eine überaus stümperhafte Kopie, wenn Sie mich fragen. Nicht schade drum. Merkwürdig ist allerdings, dass der Schädel durch den Schlag mit einem so dünnen Stückchen Holz gleich zerbrach. Na ja, genaue Todesursache morgen Mittag.«

»Todeszeitpunkt?«

»Noch recht frisch. Vor knapp zwei Stunden.«

»Um 20.03 Uhr lief ein Einbruchalarm beim Sicherheitsdienst auf«, ergänzte Monique. »Um 20.17 Uhr kamen die Security-Leute hier an, entdeckten die Leiche und setzten einen Notruf ab.«

»Okay, jetzt ist 20.52 Uhr, also eher eine Stunde, was Professor? Oder hat er den Notruf ausgelöst, als er schon tot war?«

Elmenthal zuckte mit den Schultern.

»Packen Sie mir den ein. Und das da kommt auch mit«, sagte er zu einem Mitarbeiter der Spurensicherung und deutete auf die Leiche und die beiden Holzstücke.

»Gemach, gemach«, antwortete der Mann. »Wir sind hier noch lange nicht fertig.«

»Dann beeilen Sie sich mal. Ich jedenfalls bin hier durch.«

»Ja, tschüss, Professorchen«, sagte Unger und wandte sich dann dem Mann von der Spurensicherung zu. »Moin, Kurt.«

»Hallo, Matthias«, antwortete Kurt und seufzte. »Also: Das Kellerfenster wurde von außen eingeschlagen, recht brachial, eher amateurhaft als professionell. Das hat einen stummen Alarm ausgelöst, der oben im Arbeitszimmer und außerdem beim Sicherheitsdienst auflief. Mackenbach hielt sich vermutlich im Arbeitszimmer auf, wollte nach dem Rechten schauen und wurde dann vom Täter niedergeschlagen. Wir haben haufenweise Fingerabdrücke, wahrscheinlich alle von denselben drei oder vier Personen. DNA gibt’s auch, ob da etwas Tatrelevantes bei ist, kann ich noch nicht sagen.«

»Also ein Einbruchdiebstahl?«, fragte Unger nach. »Wo hing denn das Bild?«

»Dort«, antwortete eine Stimme von der Seite. »Moin, Chef.«

Unger fuhr herum. »Ihr sollt euch nicht immer anschleichen«, schimpfte er und als er sich wieder beruhigt hatte: »Moin, Schreiber.«

Kriminalkommissar Marco Schreiber verzog schuldbewusst den Mund. Er war nett, spießig, umständlich, unsicher und sah mit seinen 32 Jahren aus wie andere mit 50. Wenn er einen Raum betrat, nahm man ihn oft nicht wahr, erst wenn er etwas sagte. Aber Unger mochte ihn, gerade wegen seiner unbeholfenen Art.

»Der Einbrecher kommt herein und nimmt dort das Bild von der Wand. Dann wird er von Mackenbach überrascht, er rennt ihm sieben, acht Meter entgegen, schlägt mit dem Bild zu, lässt dann alles liegen und flieht?«, kombinierte Unger.

»Sieht so aus«, antworte Schreiber.

»Und warum hat der Mann all die wertvollen Gemälde unbeachtet gelassen und greift sich ausgerechnet eine Kopie?«, hakte Unger nach.

»Hm«, antwortete Schreiber. Diese Frage hatte er sich offensichtlich noch nicht gestellt. »Vielleicht riss er wahllos ein Bild von der Wand, um damit zuzuschlagen.«

»Aber warum schlägt er mit diesem unhandlichen Bild zu? Hätte es nicht näher gelegen, die Vase hier zu nehmen?« Unger zeigte auf eine Chinesische Vase, die kaum einen Meter entfernt von der Leiche auf einer Stele stand.

»Vielleicht wollte er keine wertvolle Ming-Vase zerstören«, warf Monique ein.

Elmenthal, der noch immer zwischen den Anwesenden stand, trat einen Schritt an die Vase heran, nahm sie von der Stele und mustere sie intensiv.

»Ach, noch immer hier?«, fragte Unger.

»Irgendjemand muss Ihnen ja auf die Sprünge helfen, oder? Das ist keine Ming-Vase. Tang-Dynastie, 8. Jahrhundert, Wert: über eine Million – wenn es ein Original wäre.« Er hielt Unger die Unterseite der Vase hin, auf der ein Stempel ›Made in China‹ aufgebracht war.

»Ist hier denn gar nichts echt?«, fragte Unger.

»Doch, doch«, entgegnete Elmenthal und zeigte auf ein buntes Bild mit schwebenden Pferden und Menschen – so hatte Unger als Kind auch gemalt. »Hier, ein Chagall, auf 50 Exemplare limitierte Lithografie, vom Meister selbst signiert. Ich schätze 60- bis 70.000 Euro, vielleicht hundert.«