Begründete Zweifel

Roman


THESEN:


»Hat er sich um Sie gekümmert, wenn es Ihnen gesundheitlich nicht gut ging?«

»Meist schon.«

»Wann nicht?«

»Wenn er gerade eine Bettgeschichte am Laufen hatte, dann hat er mich gerne ins Krankenhaus abgeschoben.«

»Hat er Ihnen von seinen Affären erzählt?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Aber Sie haben es trotzdem erfahren?«

»Ja, ich bin nicht blöd.«

»Und haben Sie ihn dann zur Rede gestellt?«

»Manchmal.«

»Wieso nur manchmal?«

»Weil es Zeitverschwendung war.«

»Hat er eigentlich jemals Ihren Geburtstag oder einen Hochzeitstag oder Ähnliches vergessen?«

»Nein.«

»Hat er Sie mal geschlagen, einen sehnlichen Wunsch abgeschlagen, Sie schwer beleidigt?«

»Nein.«

»Aber Sie hassen ihn?«

»Ja.«

»Wegen seiner Untreue, nicht? Gibt es noch einen Grund?«

»Weil er nicht leidet.« 


Was fehlt ihm in seiner dumpfen Gleichgültigkeit, in seinem Leben ohne Gefälle? Wäre es nicht besser, einen Hügel zu erklimmen oder an einem Korallenriff zu tauchen, als immer nur am Deich entlang zu ziehen? Auch wenn es anstrengend ist? Auch wenn man Gefahr läuft abzustürzen oder zu ertrinken? Mag sein, alte Menschen sehnen sich nach Ausgleich, nach Ewigkeit, ein Leben ohne Treppen, und dann ist man vielleicht auch bereit, zu diesem Zustand überzugehen.

Wo der Strom im Ozean mündet, hört er auf zu existieren. Seine Erfüllung ist sein Ende. Aber vorher fließt er doch, der breite Strom, in immer währender Veränderung, ruhig oder reißend, manchmal durch mörderische Wasserfälle oder fast unbewegt durch einen großen See, aber immer dem Ozean entgegen. Und ist es nicht auch so, dass der Bach an der Quelle lebhaft sprudelt und der Strom kurz vor der Mündung langsam gleitet?

Schon bald nach Beginn des Prozesses hatten sich Glaubensgemeinschaften gebildet und fest definierte Bereiche der Zuschauerbänke in Besitz genommen. Wenn sich ein Neuling verirrte und unvorsichtigerweise an der falschen Stelle raunte, erging es ihm wie einem Schalke-Fan im Borussia-Block. Bei anfangs noch halbwegs ausgeglichener Sitzverteilung hatte die Schuldig-Fraktion bald an Gewicht zugenommen und man konnte nach jeder negativen Berichterstattung in der Presse eine weitere Radikalisierung des Glaubens und Veränderung im Kräfteverhältnis feststellen.


Irgendwo im Gerichtssaal donnerte eine Stecknadel zu Boden. In der Luft lag eine Atmosphäre von Zweifeln. Zweifel darüber, ob wirklich gesagt worden war, was man verstanden zu haben glaubte. Kein Getuschel, kein Räuspern, nur Zweifel. Keine Bewegung, nicht einmal hochgezogene Augenbrauen, keine Fragen, endlos lang, schließlich zwei Tränen, die sich ihren Weg über die Wangen der Zeugin bahnten.


»Was ist schief gelaufen?«

»Das System ist schief. Die Öffentlichkeit im Strafprozess ist ein fundamentales Prinzip, damit sie den ordnungsgemäßen Gang des Verfahrens kontrollieren kann. Die Pressefreiheit ist ein ebenso fundamentales Rechtsstaatsprinzip, damit die Öffentlichkeit kontrollieren kann, was im Staat vor sich geht. Aber wenn beides kumuliert und auf die Spitze getrieben wird, fordert es Menschenopfer. In Amerika hat man das begriffen. So wird in den USA die öffentliche Berichterstattung oftmals schon während des Ermittlungsverfahrens vom Gericht nach freiem Ermessen eingeschränkt, wenn sonst eine faire Verhandlung gefährdet wäre. Eine vergleichbare Möglichkeit fehlt in Deutschland leider. Daher mein Appell an die Presse: Seien Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst und halten Sie sich zurück.«


In all den Verfahren, in denen der wirkliche Täter nicht zum Schluss die Tat noch gesteht, gelten die Aussagen von Zeugen und die Feststellungen von Sachver-ständigen regelmäßig als unangreifbare Wahrheiten und kleinere Ungereimtheiten werden übergangen. Das mag nötig sein, wenn die Höhe der Verurteilungsquote zur Verfahrensmaxime herangereift ist. Empfindsame Gemüter könnten aber darüber ins Grübeln geraten, wie viele Unschuldige dieser Verfahrensmaxime bereits zum Opfer gefallen sind.