Roman
Kriegszitterer -
Invaliden der Tapferkeit
Frontsoldaten beginnen zu zittern und können nicht mehr aufhören. Das war eine massenhaft aufgetretene Erscheinung des Ersten Weltkrieges, die in früheren Kriegen nicht beschrieben worden war und die in späteren Kriegen kaum noch auftrat.
Erscheinungsform und Schweregrad reichten von permanentem Zittern der Extremitäten bis hin zu Nahrungsverweigerung, Kommunikationsverweigerung und massiven Angststörungen. Selten kam es zu spontanem Abklingen der Symptome; in den meisten Fällen litten die Kranken für den Rest ihres Lebens darunter.
Neurologische Schäden waren nicht erkennbar. Zunächst dachten die Militärärzte an mögliche Folgen von Giftgas, jedoch befiel das Zittern auch solche Soldaten, die nie einem Gasangriff ausgesetzt waren. Also hielt man die ersten Zitterer für Simulanten und behandelte sie entsprechend. Erst als die schiere Menge der Erkrankten bloße Simulation infrage stellte, setzte sich die Annahme durch, dass die Ursache nicht nur charakterlicher, sondern auch medizinischer Natur sei. Die Militärärzte glaubten mehrheitlich, dass Druckwellen detonierender Granaten verantwortlich seien, indem sie kleine Gehirnerschütterungen auslösten, die sich bei ununterbrochen mehrtägiger Einwirkung aufsummierten. Heute geht man davon aus, dass es sich beim Kriegszittern um eine Erscheinungsform der Posttraumatischen Belastungsstörung handelt.
Wirksame Therapien gab es damals nicht. In der Psychiatrie jener Zeit waren Schockbehandlungen in Mode, insbesondere Angstschocks und Elektroschocks. Man wendete sie auch bei den Zitterern an. Nicht selten starben die Patienten durch die Behandlung. Dies stand durchaus im Einklang mit dem die Kriegszeit beherrschenden Paradigma, ein Soldat habe kampffähig oder tot zu sein.
Mit Verständnis und Zuwendung hingegen konnte kaum ein Zitterer rechnen. So waren sie gleich in mehrfacher Hinsicht belastet: Mit ihrer hilflosen Lage, mit den Erinnerungen an Kriegserlebnisse, die sie in diese Lage versetzt hatten, und mit einer gesellschaftlichen Geringschätzung, weil sie ihre Kameraden an der Front aus Nervenschwäche und Feigheit im Stich gelassen hätten.
In Frankreich ging man mit den Kriegszitterern anders um: Man stellte sie den körperlichen Invaliden gleich; man nannte sie "Invaliden der Tapferkeit".
Lesenswert:
Peter Riedesser, Axel Verderber: Maschinengewehre hinter der Front. Zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie; 4. A. Frankfurt/M. 2016.