Combo
Roman
THESEN:
»Was mich antreibt?«, fragte ich zurück. »Was uns alle antreibt, ist ein biochemisches Gefälle, das eine Hormon zu viel, ein anderes zu wenig. Vielleicht fehlen Kohlenhydrate, vielleicht Wasser. Wir haben Hunger, Durst, Müdigkeit, Gefühle des Mangels. Wie Flüssigkeiten in kommunizierenden Röhren versuchen wir, das Gefälle auszugleichen. Sobald uns das gelungen ist, sobald es kein Gefälle mehr gibt, und kein neues mehr entsteht, treibt uns nichts mehr an. Wir sind dann tot. Das ist alles. Uns treibt die Todessehnsucht.«
»Hat das Leben nicht immer einen Sinn?«
»Sie finden also, es gebe kein sinnloses Leben?«
»Mein Leben jedenfalls hat einen Sinn, auch wenn es mir nicht in jedem Augenblick bewusst ist.«
»Was ist denn der Sinn Ihres Lebens?«
»Tja ... meine Familie, die beiden Kinder.«
»Und wenn Sie keine Kinder hätten?«
»Was weiß ich ... Verbrecher jagen.«
»Schön dass Ihnen ihr Beruf so viel Spaß macht. Den meisten Menschen geht es nicht so.«
»War das Sarkasmus?«
»Nein, gar nicht. Angenommen, Sie wären kein Kommissar, dann könnten Sie keine Verbrecher jagen.«
»Darum geht es doch gar nicht. Es geht darum, dass man den Sinn vielleicht mal aus dem Auge verliert, und dann kann man sich doch nicht gleich das Leben nehmen.«
»Also was jetzt? Was wenn Sie kein Kommissar wären?«
»Dann würde ich es anstreben.«
»Und wenn es ihnen nicht glückt?«
»Das ist alles Quatsch. Du streichst mir jeden Sinn weg, bis zum Schluss keiner mehr übrig bleibt. Das ist Quatsch.«
»Nein, ist es nicht. Es läuft auf die Frage hinaus, ob das Leben an sich Sinn genug ist.«
»Ja, ist es!«
»Nein, ist es nicht!«
Pause.
»Und was ist dein Lebenssinn?«
Pause.
»Das alles berechtigt dich nicht, Selbstjustiz zu verüben.«
»Wieso nicht?«
»Weil Selbstjustiz verboten ist.«
»Ein Gesetz, das darauf hinausläuft, einen Mörder unbestraft davonkommen zu lassen, ist nicht gerecht, daran fühle ich mich nicht gebunden.«
»In Deutschland gibt es kein Gesetz, nach dem Mörder straffrei bleiben sollen. Es gibt nur Gesetze, die geordnete Verfahren vorsehen und Gesetze, die regeln, was passieren soll, wenn die Tat nicht sicher bewiesen ist.«
»Aber die Tat ist sicher bewiesen. Das weiß ich doch. Das hab ich doch alles erklärt!«
»Was sicher bewiesen ist, entscheidest doch nicht du, sondern ein Gericht mit neutralen Richtern.«
»Hier wurde aber kein Gericht eingeschaltet. Und deshalb musste ich entscheiden.«
»Dafür gibt es geordnete Verfahren. Ob ein Gericht eingeschaltet wird, wie es verhandelt, woran es sich orientiert, für all das gibt es Regeln. Das entscheidest nicht du. Und wenn ein Gesetz tatsächlich einmal darauf hinauslaufen sollte, dass ein Straftäter freikommt, aus Mangel an Beweisen, wegen eines Verfahrensfehlers, wegen Verjährung, aufgrund einer Kronzeugenregelung oder was weiß ich, warum, dann ist diese Möglichkeit rechtsstaatlich so vorgesehen und dann wärst auch du daran gebunden.«
»Wer sagt das?«
»Die Gesellschaft.«
»Hören Sie mir nicht zu? Die Gesellschaft setzt sich aus Individuen zusammen. Also besitzt sie keine höhere Autorität als jedes einzelne Individuum. Das Individuum hat sich der Gesellschaft aber nicht freiwillig unterworfen. Deshalb gründet die Macht der Gesellschaft allein auf dem Recht des Stärkeren. Doch das ist keine Instanz der Gerechtigkeit. Und deshalb bin ich an die Gesetze der Gesellschaft nicht gebunden.«
»Aber wenn du deine eigene Gerechtigkeit formulierst und auf einen anderen, nämlich deinen Stiefvater, anwendest, machst du – nach deiner eigenen These – nichts anderes als das, was die Gesellschaft mit dir macht: Du übst das Recht des Stärkeren aus.«
»Es ist mein Recht, das einzige Recht, das mich wirklich bindet.«
»Das wäre letzten Endes Anarchie. Das würde auf gesellschaftliche Unordnung, Gewaltherrschaft und Gesetzlosigkeit hinauslaufen, auf das Ende von Menschenrechten und Minderheitenschutz. Das kannst du nicht wirklich wollen.«
»Doch genau das will ich.«