Kay Jacobs: Begründete Zweifel
Leseprobe
I
Die Morgensonne quetschte ihre Tentakel durch die Lamellen am Fenster und verätzte Judiths Augen. Sie quälte sich auf die andere Seite und versuchte wieder Nacht. Dass die Tentakel bereits Gegenwart in sie hineingepumpt hatten, bemerkte sie nicht. Widerwillig nahm der Geist seine Arbeit auf. Zunächst wehrte sich Judith noch gegen die unvermeidlichen Erinnerungen, dann ließ sie sie zu: Die Planeten hatten ihre Bahnen verlassen, und das Blut, das Blut, überall.
Die Tür öffnete sich. Mit der Routine von Jahrzehnten walzte ein fleischiges Wesen auf das Fenster zu, zog die Jalousien hoch und kippte einen Flügel auf.
»Hallo Frau Marrá, Sie sind ja wach. Ich bin Schwester Gerlinde. Wie geht es Ihnen?«
Jetzt ergoss die Sonne ihr gesamtes Nesselgift über Judith, verursachte die massenhafte Ausschüttung von Adrenalin und rief eine auf die Schwester gerichtete und nur mühsam wieder eingedämmte Aggressivität hervor.
»Maratt. Wie Fahrrad.«
So hatte sich Jan bei ihrem ersten Treffen vorgestellt. Es hatte witzig sein sollen, war aber ziemlich verkrampft gewesen. Trotzdem hatte Judith es übernommen. Wie von selbst glitt es ihr immer wieder aus dem Mund, wenn jemand ihren Namen französisch aussprach.
Judith hätte gerne gefragt, wo sie war, traute sich aber nicht, und im Grunde wäre die Frage auch überflüssig gewesen: eine Frau in weißem Kasack, etwas Piksendes in der linken Armbeuge und ein Nachttisch, wie er nur in deutschen Krankenhäusern zu finden war. Jetzt rollte die Schwester auf Judith zu und beschäftigte sich mit dem Piksenden in der Armbeuge.
»Schwester...«
Judith fiel der Name der Krankenschwester nicht mehr ein und ohne Kontaktlinsen konnte Sie vom Namensschild nur das große ›G‹ entziffern, »Können Sie mir ein Telefon hinstellen? Ich möchte meinen Arzt anrufen.«
»So, Ihren Arzt. Ich sag ihm gleich mal Bescheid, dem Arzt, okay?« Schwester Gesine, oder so, polterte hinaus.
Judith schaute aus dem Fenster. Draußen war Herbst und in ihren Gedanken war Sturm. Jan lebte nicht mehr, gestorben in einem Meer von Blut. Der Mann, mit dem sie zwölf Jahre verheiratet war, ein Drittel ihres Lebens, er war jetzt tot. Die Bilder der vergangenen Nacht, Jans halb geöffnete Augen, das eingestürzte Bücherregal, Jans halb geöffnete Augen, die blutüberströmte Bodenvase und vor allem Jans halb geöffnete Augen summten um ihren Kopf und fochten darum, ob Judith jetzt in Ohnmacht oder in einen Heulkrampf stürzen sollte.
Es klopfte und in der Tür stand eine ansehnliche Erscheinung, allenfalls knapp über 30, mit Drei-Tage-Bart und selbstbewusstem Lächeln. Ein weißer Kittel und ein Stethoskop wiesen einen Arzt aus. Judiths Augen waren verquollen, der Teint eher grau, die Mimik vor Anspannung verzerrt und der Körper unter der Bettdecke versteckt. Keine Chance, irgendwie attraktiv zu wirken. Da hätte auch nicht geholfen, das Grübchen neben dem Mund durch ein Lächeln hervorzukehren. Wahrscheinlich hätte Lächeln an diesem Tag körperlichen Schmerz verursacht. Judith versuchte es gar nicht erst.
»Guten Morgen, Frau Marrá. Ich bin Joachim Steinbach, Stationsarzt hier.«
»Maratt, wie Fahrrad.«
»Wir haben Ihnen zur Beruhigung ein paar ziemlich heftige Medikamente eingeflößt und Ihr Blutdruck hat sich noch nicht eingependelt. Ich schlage vor, dass Sie noch ein oder zwei Tage bei uns bleiben. Ich würde Ihnen auch gerne unseren Psychologen oder unseren Krankenhausseelsorger vorbeischicken. Was halten Sie davon?«
»Ich würde lieber meinen Psychotherapeuten anrufen.«
»Ihren Arzt, nicht? Ich habe schon gehört. Wie heißt er denn?«
»Doktor Michael Kohlhase.«
»Hier aus Hamburg?«
»Ja.«
»Wir sagen ihm Bescheid und für ein Telefon sorgt die Schwester. Dauert aber etwas. Haben Sie kein Handy?« Nach einer Pause, die so kurz war, dass sie nicht wirklich eine Antwort erforderte, fuhr Steinbach fort: »Die Polizei möchte benachrichtigt werden, sobald Sie in der Lage sind, mit denen zu sprechen. Was meinen Sie?«
Judith nickte. Wo war eigentlich ihr Handy? Wieder öffnete sich die Tür und Schwester Gerda, oder so, kam herein. Es war ein bisschen wie im Taubenschlag. Die Schwester tuschelte mit Steinbach, der dann freundlich zwinkernd das Zimmer verließ. Hatten die sich verabredet, Judith nicht allein zu lassen? Auch gut. Sie musste sich dann nicht den Gedanken von Tod und Verlorenheit ausliefern. Sie konnte nach ihrem Handy fragen.
»Ist mein Handy hier irgendwo?«
Keine Antwort.
Sie könnte auch über den Vornamen der Schwester sinnieren. ›Gisela‹ war ihr Favorit. Schwester Gisela interessierte sich jetzt für Judiths Blutdruck. Vielleicht könnte sich Gisela auch mal nach Judiths Appetit erkundigen. Hunger hatte sie zwar nicht, aber man könnte doch fragen und ein halber Liter Kaffee wäre gar nicht schlecht.
»Könnten Sie mir einen Kaffee bringen?«
»Pst! – 60 zu 120 und Puls 84.« Die Schwester holte einen Kugelschreiber aus der Seitentasche ihres Kasacks und notierte die aktuellen Lebensbeweise im Krankenblatt. »Frühstück ist vorbei. Kaffee gibt’s erst wieder am Nachmittag. Und ein Handy hatten Sie nicht dabei, ist hier auch verboten.«
Das gab Punktabzug. Aus Gisela wurde Gertrude! Schwester Gertrude verließ den Raum und Judith fiel erschöpft in einen Schlaf mit wirren Bildern und trostloser Einsamkeit. Mit Caspar, ihrem Sohn, ritt sie spät durch Nacht und Wind, verfolgt von einer dunklen Gestalt. Zu Hause angekommen lag Caspar leblos in ihren Armen. Das war Judiths Standardalbtraum, seit sie in der Schule den ›Erlkönig‹ gelesen hatte, nichts Besonderes und eigentlich nicht weiter erwähnenswert, wenn die dunkle Gestalt dieses Mal nicht Jans Gesichtszüge getragen hätte. Noch im Schlaf schämte sich Judith, gerade an diesem Tag schlecht von Jan geträumt zu haben.
Der Duft von Bohnenkaffee beendete den Schlaf. Er tat es. Und er hätte es auch getan, wenn Jan noch am Leben gewesen wäre und noch so oft behauptet hätte, dass man von Kaffeeduft nicht wachwerden könnte. ›... weil Geruchswahrnehmungen keinen hinreichend starken Impuls an das Gehirn senden, wie etwa Lärm. Deshalb wachen Leute von Brandgeruch nicht auf, aber von Alarmglocken.‹ Kurz nach dieser Belehrung hatte Jan sämtliche Zimmerdecken ihres Hauses mit Rauchmeldern versehen. Das war gerade mal ein Jahr her. Vergebens. Jan war gestorben, ohne dass sich die Anschaffung ausgezahlt hätte.
»Ich habe ihnen einen Kaffee aus dem Schwesternzimmer geholt. Aber nicht petzen! Draußen wartet einer von der Kripo.« Schwester Gertrude platzierte einen verlockenden Becher auf dem Nachttisch, dazu zwei Zuckerwürfel und einen Plastiktiegel Kaffeemilch. »Trinken Sie erst mal in Ruhe aus. Ich komm in zehn Minuten wieder und dann schauen wir, ob wir den Kommissar reinlassen, okay?«
»Danke.«
Gertrude stieg wieder zu Gisela auf, rollte aus dem Zimmer, kam nach einer Viertelstunde zurück, ließ mit Judiths Einverständnis einen etwa 50-jährigen Mann mit lichten Haaren in Jeans und einem altmodischen, leicht abgewetzten Stoffmantel hinein und verschwand wieder.
»Guten Tag, ich bin Kriminalhauptkommissar Hinz. Mein Beileid. Können wir über gestern Nacht reden?“ Hinz zeigte kurz seinen Dienstausweis vom Landeskriminalamt Hamburg vor.
»Ja natürlich.«
Judith fiel in sich zusammen. Der Versuch von Normalität war gescheitert. Es war das erste Mal, dass jemand die vergangene Nacht ansprach. Bislang war sie nur Erinnerung in Judiths Kopf gewesen. Wenn sie jetzt mit jemandem darüber redete, wurde es präsente Wirklichkeit.
»Sie waren gestern ohne Ihren Mann ausgegangen?«
Die sonore Stimme des Kommissars wirkte beruhigend. Die Polizei würde ihre Arbeit machen, den Täter finden und Judith beschützen.
»Ja, am Nachmittag war ich mit einer Freundin unterwegs, Charlotte Esbe.«
»Wie ging es dann weiter?«
»Abends haben wir uns mit der ganzen Clique getroffen und sind ins Kino gegangen. Danach haben wir alle noch ein Glas Wein getrunken. Ungefähr um halb zwölf fuhr ich mit einem Taxi nach Hause. Im Wohnzimmer fand ich dann meinen Mann blutüberströmt auf dem Boden liegen. Und dann rief ich die Polizei. Wie es weiterging, weiß ich nicht mehr genau.«
Wieso eigentlich hatte Judith das Bedürfnis nach Schutz? War da noch was, an das sie sich besser erinnern sollte?
»Als die Beamten eintrafen, mussten sie die Tür aufbrechen, weil niemand öffnete. Im Wohnzimmer fanden sie Sie neben der Leiche Ihres Mannes kauern. Im Protokoll steht, Sie hätten angegeben, dass Sie Totenwache hielten. Die Beamten riefen einen Arzt und der ließ Sie ins Krankenhaus bringen.«
»Ja, ich glaube, so war es«, antwortete Judith, die diese Szenen zwar erinnerte, aber für einen Traum gehalten hatte. Überhaupt war ihr die letzte Nacht mehrfach in unterschiedlichsten Abwandlungen im Traum erschienen und Judith hatte es schwer, die Varianten auseinander zu halten.
»Die Polizei wurde um 23 Uhr 43 alarmiert, also über zehn Minuten, nachdem Sie nach Hause gekommen waren. Was ist in der Zwischenzeit passiert? Hatten Sie die Leiche vielleicht nicht sofort gefunden?«
»Doch, ich glaube schon. Ich kam nach Hause, hängte meinen Mantel an die Garderobe, ging ins Wohnzimmer und dann lag er da auf dem Boden. Ich hab dann sofort die Polizei gerufen. Glaub ich.«
»Manchmal sind die Leute so schockiert, dass sie kurz die Zeit verlieren. Das kommt vor. Frau Esbe kennen wir übrigens schon. Die hat sich nach Ihnen erkundigt. Sie hat aus Ihrer Wohnung ein paar Sachen eingepackt und will sie nachher noch hier vorbeibringen. Wissen Sie, was Ihr Mann gestern Abend gemacht hat?«
»Er wird den ganzen Abend zu Hause gewesen sein. Er hatte eine Grippe mit ein bisschen Fiber. Da war er tagsüber nicht zur Arbeit gegangen und wollte am Abend zu Hause noch etwas arbeiten. Er war IT-Berater bei ›Hörmann + Schmitt Consult‹ und da hat er oft zu Hause gearbeitet.«
Hinz holte einen Notizblock aus seiner Manteltasche und notierte sich den Firmennamen. »Welchen Film haben Sie gesehen?«
»›Eat, Pray, Love‹ mit Julia Roberts. Das läuft im Holi in Harvestehude. Und den Wein haben wir im ›Amici‹ in Winterhude getrunken.«
»... ter ... hu ... de. Haben Sie einen Verdacht?«
»Nein, wirklich nicht.«
Es klopfte an der Tür, dann öffnete sie sich und gab den Blick frei auf einen mittelgroßen Mittvierziger in einem dunklen Tweed-Sakko und einer hellen Bundfaltenhose.
»Micha, schön dass du da bist. Das ist Doktor Kohlhase, mein Psychotherapeut. Das ist Kommissar Hinz.« Judiths Gesicht entkrampfte sich, entspannte sich fast. Kohlhase war da. Er würde ihr beistehen und aufpassen, dass ihr nichts geschehe, und die bösen Geister verjagen und die bösen Gedanken. Und Jans halb geöffnete Augen.
»Therapeut stimmt nicht ganz. Wir sind eigentlich eher befreundet. Guten Tag, Herr Hinz.« Kohlhase deutete ein Kopfnicken an und wendete sich dann mit einem Lächeln und einem Wangenkuss Judith zu.
»Guten Tag, Herr Doktor Kohlhase«, antwortete Hinz, »wir sprechen gerade über gestern Nacht. Eine wirklich tragische Sache. Wie gut kannten Sie Herrn Maratt?«
»Flüchtig«, Kohlhase blickte kurz auf seine Schuhe, »nur flüchtig.«
Die Anwesenden legten ein paar Schweigesekunden ein. Für Judith war es Gedenken an Jan, für Hinz demonstratives Mitgefühl, für Kohlhase nervöse Verlegenheit. Dann fuhr Hinz mit einer gewissen Geschäftsmäßigkeit fort.
»Ein Kellerfenster wurde eingeschlagen; so sind die Täter offenbar in das Haus eingedrungen. Seit einiger Zeit gibt es im Norden von Hamburg eine Einbruchserie, bislang allerdings ohne Gewalttaten. Der eigentliche Tathergang ist uns auch noch recht unklar. Die Täter sind augenscheinlich direkt ins Wohnzimmer vorgedrungen und wurden dort möglicherweise von Herrn Maratt überrascht. Die Spuren sind aber alles andere als eindeutig. Ob etwas fehlt, können Sie noch nicht sagen, nehme ich an.«
»Das weiß ich wirklich nicht«, antwortete Judith.
»Wir haben Fingerabdrücke gefunden. Und jetzt müssen wir wissen, wer in der letzten Zeit in Ihrem Wohnzimmer war, um die Fingerabdrücke des Täters isolieren zu können.«
»Mein Mann, ich, unsere Putzfrau und dann eigentlich nur noch Frau Esbe. Das waren alle in den letzten Wochen.«
»Dann kommt noch jemand vom Erkennungsdienst und nimmt bei Ihnen die Fingerabdrücke, damit wir Sie bei der Spurensicherung ausschließen können.«
Nach einem Klopfen, das eigentlich keines war, erstürmte Schwester Gisela das Zimmer, legte ein Telefon auf den Nachttisch und verschwand wieder. Dadurch stieg Gisela sogar zu Gesa auf. Hinz ließ sich von Judith noch Namen und Anschriften der Cliquenmitglieder und der Putzfrau geben und verabschiedete sich.
Judith und Kohlhase waren allein. Sie blickte an die Decke, er aus dem Fenster. Dann versuchten sie eine Unterhaltung.
»War das der Kommissar oder sein Harry?«, fragte er und provozierte damit bei ihr lediglich hochgezogene Augenbrauen, so dass er ohne Antwort fortfuhr, wie ein Quiz mit unmittelbar anschließender Auflösung. »Naja, die Aufklärungsquote bei Mord soll recht hoch sein. Aber dieser Kommissar scheint mir dazu nicht sehr viel beigetragen zu haben.«
Kohlhases Humor kam nicht an. Er schaute wieder aus dem Fenster, Judith wieder an die Decke. Dann studierte er den Pflegebogen, der in einer Tasche am Fußende von Judiths Bett steckte.
»Die haben dich mit Diazepam zugeballert. Du musst den Laden hier ziemlich aufgemischt haben. Na, jedenfalls macht das schläfrig und beruhigt. Sonst wärst du jetzt ganz anders drauf.« Seine Stimme klang ungewöhnlich distanziert.
»Ja sicher,« antwortete Judith mit einem verlegenen Blick zu Kohlhase, dann wieder an die Decke. Schweigen.
»Wie fühlst du dich denn?«
»Verlassen, verloren, verstorben.«
»Das ist ganz normal, bei dem, was du mitgemacht hast. Es ist eigentlich sogar ziemlich stark, wie du dich verhältst. Du hast dem Kommissar Auskunft erteilt ... reflektiert ... gefasst ... Käsebrot ...«
Judith hörte nicht mehr hin. Ihr wurde klar: Ihr Micha war kein Beschützer, er hielt die Distanz eines Therapeuten ein. Augenblicklich verzerrte sich ihr Gesicht und Tränen rannen darüber. Kohlhase setzte sich auf ihr Bett und nahm sie in den Arm.
Endlich.
»Hilf mir, Micha, bitte. Ich weiß nicht weiter. Ich kann nicht mehr.«
»Weine, mein Kleines, weine. Ich bin bei dir. Zusammen schaffen wir das.« Dann schob er noch hinterher: »Aber du brauchst eine stationäre psychische Betreuung.«
»Das will ich nicht.«
»Aber in deinem Zustand kannst du nicht einfach nach Hause gehen, als wäre nichts passiert. Du musst dich zumindest ambulant an einen Psychotherapeuten wenden.«
»Du bist mein Therapeut.«
»Das geht nicht, Kleines. Das weißt du doch. Ich besorge dir einen guten Kollegen.«
Wieder klopfte es. Taubenschlag. Eine Krankenschwester kam herein. Nicht Gesa, jünger, dünner, hübscher.
»Hallo, ich bin Schwester Gesa.«
Gesa?
»Ich wollte Ihren Blutdruck messen und dann können wir vielleicht die Infusion entfernen. Ich kann gerne noch einmal wiederkommen.«
»Nein, es geht schon.« Judith fing sich wieder und Kohlhase stand wortlos vom Bett auf, um für Schwester Gesa Platz zu machen.
Und schon wieder klopfte es am Taubenschlag. Eine zierliche junge Frau schleppte stöhnend einen Koffer und eine große Reisetasche ins Zimmer.
»SBchen, der Kommissar hat dich schon angekündigt. Das ist lieb von dir, dass du vorbei kommst mit all den Sachen.«
»Ich wusste nicht so genau, was du brauchst, und da hab ich lieber zu viel als zu wenig eingepackt. Aber ich hab’s schon bereut. Das wichtigste jedenfalls: Hier ist dein Handy.«
Charlotte Esbe, Judiths beste Freundin, wurde oft SB, SBchen oder Charly genannt. Mit einem knappen ›Hallo‹ begrüßte sie noch Kohlhase, der ebenso knapp zurück grüßte. Dann wandte sie sich wieder Judith zu. Sie hätte sie wohl umarmt, wenn sich nicht Schwester Gesa gerade an Judith zu schaffen gemacht hätte. So blieb es bei einer kurz getätschelten Schulter. »Wie geht es dir, mein Mäuschen? Ich kann es noch gar nicht fassen.«
Judith dachte noch über eine passende Antwort nach, als Charly das Thema wechselte: »Wie lange musst Du noch hier bleiben? Du kommst erst mal zu mir, wenn die dich hier entlassen. Du hast ja sonst niemanden.«
»Das ist eine gute Idee«, ergriff Kohlhase das Wort, um eine Verantwortung erleichtert. »Ich muss wieder los. Ich melde mich morgen. Wenn du was brauchst, klingle einfach durch.«
Er gab Judith einen Kuss auf die Wange, zögerte noch einen kurzen Augenblick, verließ dann aber den Raum, während er Charly einen flüchtigen Blick zuwarf, der – wenn man die Einhaltung mitteleuropäischer Anstandsregeln unterstellt – als Verabschiedung interpretiert werden konnte. Nachdem sie den Blutdruck gemessen und die Infusion entfernt hatte, verschwand auch Schwester Gesa mit der beiläufigen Bitte, wegen des noch instabilen Blutdrucks vorerst nur in Anwesenheit des Pflegepersonals das Bett zu verlassen.
Charly setzte sich an Judiths Bett, nahm ihre Hand und schaute sie schweigend an. Schweigen war für Charly eine unübliche Tätigkeit, aber jetzt tat sie es einfach. Minutenlang.
Aus einem tiefen Verständnis für Judiths Seele heraus ahnte Charly, dass sie jetzt nur ihre Hand brauchte. Ein warmer Strom von Geborgenheit durchfloss Judiths Körper. Der freie Fall war zu Ende. Sie sank nicht mehr weiter und das war schon ein Trost. Judith und Charly lächelten sich an.
Charly hatte langes blondes Haar und lief immer so rum, als wollte sie gleich von einem Modelscout entdeckt werden. Ihr war klar, dass das nie passieren würde. Mit ihren 1,69 war sie zu klein und mit ihren 35 Jahren viel zu alt für eine Modelkarriere. Aber die Illusion zumindest wollte sie nicht aufgeben. Judith kannte sie seit der Studienzeit, als sie sich bei einem Ski-Gymnastik-Kurs kennengelernt hatten.
Beide waren sehr verschieden: Judith, die scheue Kunstgeschichte-Studentin, und Charly, das Partygirl mit dem Studienfach Betriebswirtschaft – zwei, die eigentlich gar nicht zueinander passten. Aber eher durch Zufall hatten sie begonnen, sich gegenseitig ins Vertrauen zu ziehen, und dabei bemerkt, dass sie einander im Innersten verstanden.
Seit jener Zeit hatte Charlotte Esbe ihren Spitznamen SB. Das war eine Anspielung auf die Abkürzung für Selbstbedienung und Charly hatte damals den nicht ganz unverdienten Ruf, für Jungs leicht zu haben zu sein. Judith hatte sich immer gewünscht, ein wenig wie Charly zu sein. Ein paar Monate hatten sie damals auch in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung zusammen gewohnt, bis Judith Jan kennengelernt und zu ihm gezogen war.
Besonders eng war das Verhältnis geworden, als Judith mit den Worten ›ich kann dann mehr essen‹ an Charly, die bereits seit Langem unter chronischer Niereninsuffizienz litt und deren terminales Stadium im Alter von 28 Jahren immer dringlicher nach einer Organspende verlangte, eine Niere abgab. Judith war dabei ganz anders zumute gewesen, als die Flapsigkeit ihrer Bemerkung erwarten ließ. Sie hatte eine fast panische Angst vor der Operation, aber die Vorstellung, nicht versucht zu haben ihrer besten Freundin das Leben zu retten, hätte sie in den Wahnsinn getrieben, wenn Charly an Nierenversagen gestorben wäre.
Wahnsinnig waren die beiden Freundinnen dann doch fast geworden, weil eine Lebendspende zwischen Personen, die nicht miteinander verwandt oder verheiratet waren, zu jener Zeit zwar bereits erlaubt, aber unüblich war und unerwartete und nahezu unüberwindliche Hindernisse hervorriefen. Sie mussten vor einer Kommission aussagen, die, ähnlich der Gewissensprüfung beim Wehrdienst, entscheiden sollte, ob die Motivation zur Nierenspende ethisch akzeptabel war. Als der Kommissionsvorsitzende erklärte, dass man auf diese Weise dem Organhandel vorbeugen wollte, lehnte Charly die Spende plötzlich ab. Judith hatte dann große Mühe, sie davon zu überzeugen, dass ihr Verhältnis nicht von Befürchtungen irgendwelcher Kommissionen abhängen dürfe und dass Charlys Leben zu wichtig und die Spende zu dringend sei, um zimperlich zu sein. Letzten Endes ließ Charly sich wieder umstimmen, weil sie erkannte, dass es für Judith überaus wichtig war, ihr die Niere zu spenden. Charly ließ sich auch deshalb von Judith das Leben retten, weil Judiths Seelenheil davon abhing! Später fragten sie sich oft, ob es eine noch größere Liebe zwischen Menschen geben könnte.
Der Hindernislauf war aber noch nicht beendet, weil nun die Kommission Charlys Zaudern für verdächtig hielt und dazu tendierte, die Zustimmung zur Organspende zu verweigern. Judith hatte große Mühe und verzweifelte Geduld aufbringen müssen, die Hintergründe nochmals und nochmals glaubhaft darzulegen und zugleich die zaudernde Charly bei der Stange zu halten, bis alle gleichzeitig einverstanden waren und die lebensrettende Spende erfolgen konnte.
»Wenn Du zu mir kommst, leihen wir uns die besten Filme aus und lassen uns Pizza liefern. Und wir gucken, bis wir eingeschlafen sind, und wenn wir aufwachen, spulen wir zurück«, schoss es aus Charly heraus, als wollte sie die Wortlosigkeit der vorangegangenen Minuten wieder aufholen. »Und Uwe lassen wir nicht rein, naja zweimal pro Woche vielleicht schon. Dann nehme ich ihn aber gleich mit ins Schlafzimmer. Du kannst dir auch einen bestellen, wenn du willst.«
Uwe war Charlys Lover und er war Kummer gewöhnt. Er spielte in ihrem Leben nicht die Hauptrolle, war eher Nebensache, ein Luxusspielzeug, das sie herausholte, wenn sie nichts Besseres vorhatte und der Vibrator zu langweilig wurde. Aber auch Uwe hatte eine Vielzahl anderweitiger Interessen, so dass die beiden sich auf ihre ungebundene Art schon seit Jahren zufriedenstellend ergänzten.
»Du bleibst natürlich, solange du willst, und noch einen Monat länger«, fuhr Charly fort. »Die Wohnung ist groß genug. Für die erste Woche nehme ich mir Urlaub, damit du nicht alleine bist. Ich kann es kaum erwarten. Es wird alles wieder gut, das weiß ich genau.«
Sie schwiegen wieder und hielten einander die Hände, bis Charly weg musste und Judith ihren dunklen Gedanken überließ. Gedanken an
Jan, seine halb geöffneten Augen und wie sein Hals Blut erbrach und damit die Dielen lackierte. Er hatte sie verlassen und sie brauchte ihn so. Wahrscheinlich hatte er den Helden spielen wollen,
als er die Einbrecher überraschte, dieser Idiot.
II
Am nächsten Tag saß Judith auf dem Bett und wartete darauf, von Charly abgeholt zu werden. Sie trug weiße Sneakers, blaue Jeans und einen schwarzen Pullover. Ihre Standardkleidung, bei der sie im Wesentlichen nur den Pullover variierte, je nach Jahreszeit die Dicke, oft auch ein T-Shirt, und je nach Gemütszustand die Farbe und die Tiefe des Ausschnitts. Jetzt war Schwarz dran und hoch geschlossen. Judith hatte unkomplizierte und sportlich enge Kleidung sehr gern, weil darin ihre wohl proportionierte Figur zum Tragen kam. Für die nächste Zeit nahm sie sich aber elegante schwarze Kleidung vor. Das war sie Jan schuldig.
Es hatte noch einige Diskussionen mit Doktor Steinbach gegeben, der sie zur Kur in eine psychosomatische Klinik schicken oder zumindest noch ein paar Tage bei sich behalten wollte. Er machte sich Sorgen um Judith, akzeptierte dann aber ihre Entscheidung, als sie ihm versicherte, dass Charly sie in den nächsten Tagen durchgängig beaufsichtigen würde.
Im Gegensatz dazu schien die stets mürrische Schwester Gesa die Ältere, nicht zu billigen, dass Judith die Empfehlungen von Steinbach missachtete. Patienten, egal welchen Alters, waren für sie kleine Kinder, noch dazu krank, die nie taten, was sie sollten, immer nur Ärger machten und bei denen das Züchtigungsarsenal durch Richter und Bundestagsabgeordnete, auch alles potenzielle Patienten, unangemessen eingeschränkt worden war. Mehrmals war sie wortkarg ins Zimmer gerollt, als hätte sie kontrollieren wollen, ob Judith Klinikeigentum eingesteckt hatte. Deshalb wäre sie fast wieder zu Gertrude geworden. ›Gesa die Ältere‹ fand Judith ohnehin nicht angemessen. Zwar hatte Judith zwischenzeitlich einmal ihre Brille aufgesetzt, als Gesa die Ältere im Zimmer war, und wusste jetzt, dass sie Gerlinde hieß. Doch auch das passte nicht wirklich. So beschloss Judith, sie G-Punkt zu nennen. Ihr gefiel die Pointe und sie freute sich über ihr Gelingen, einen Moment später schämte sie sich aber dafür. Nicht weil sie meinte, G-Punkt das nicht antun zu dürfen, sondern weil sie glaubte, in ihrer Situation nicht albern sein zu sollen. Und weil sie ahnte, dass ihr Versuch nervlicher Stärke in hysterische Albernheit ausgeartet war. Sie kam jedoch nicht mehr dazu, sich zu korrigieren, weil plötzlich Charly im Zimmer stand.
»Bereit?«, fragte Charly und es klang wie ein Willkommensgruß im neuen Leben.
»Ja, wir wollen uns beeilen, die haben hier ganz eigenartige Abschiedsrituale. In jede Körperöffnung wurde mir was reingesteckt oder was rausgeholt. Und weil das nicht ausreichte, haben die noch ein paar Öffnungen dazu gebohrt. Ich glaube, die Oberschwester ist ein Vampir.«
Charly wohnte in einer modernisierten Vier-Zimmer-Altbauwohnung in Hamburg-Winterhude. Gründerzeit. Hohe, große Räume. Eine offene weiße Glanzlack-Küche, weiße Möbel auf dunklem Wenge-Parkett und ein Aquarium. Die Wohnung hatte Stil. Judith würde sich da wohlfühlen. Sie bezog das Gästezimmer. Es war im Design vernachlässigt, weil Charlys Gäste normalerweise im Schlafzimmer abstiegen. Obwohl sie Charly in ihrer Wohnung schon oft besucht hatte, kannte Judith dieses Zimmer nicht mal. Egal, sie würde sich hier wohlfühlen. Sie war bei ihrer liebsten Freundin.
In der Nacht lag Judith wach im Bett. Die Gedanken kreisten betrunken um ihren Kopf wie Comicvögel und ließen sich auch von einer Schlaftablette nicht beruhigen. Judith spürte ihre Verlassenheit. Früher hatten sie und Jan zwar in getrennten Zimmern geschlafen, aber die Türen standen meistens offen und selbst, wenn sie geschlossen waren, hatte sich Jan jedenfalls im Nebenzimmer aufgehalten. Das würde er von nun an nie wieder tun.
Noch vor wenigen Tagen hatte Judith ihn verlassen wollen, was jetzt zweierlei hervorrief: erstens das überwältigende Gefühl, an seinem Tod Schuld zu sein, und zweitens die mystische Befürchtung, dafür bis in die Ewigkeit an einem Ort ohne Licht zu vegetieren.
Ihre Ehe war nie unproblematisch gewesen. Judith hatte Jan unendlich viel zu verdanken, eigentlich ihr ganzes Erwachsenenleben. Er hatte sie aus ihrem psychopathischen Elternhaus mit der alkoholabhängigen Mutter, dem brutalen Vater und der übergeschnappten Schwester weggeheiratet. Ohne ihn hätte sie dazu nie die Kraft aufgebracht. Dafür war sie ihm dankbar gewesen und hatte in dieser Dankbarkeit nie nachgelassen, so dass diese in den späteren Ehejahren zum dominierenden, irgendwann einzigen positiven Gefühl wurde, das Judith mit Jan verband.
Sie war viel zu naiv und zu labil, um Jan Halt geben zu können, das wusste sie. Er hatte für beide denken und entscheiden müssen, wofür sie ihn manchmal scherzhaft Henry Higgins genannt hatte, er sie Schneewittchen. Er hatte es in ihren Augen wirklich nicht leicht mit ihr. Sie litt oft unter Depressionen und er hatte ihr Hysterie nachgesagt. In Hamburg-Langenhorn, wo sie wohnten, hatte früher die Landesirrenanstalt gestanden. Wenn Jan mit ihr böse war, hatte er manchmal gesagt, dass sie zu Recht in Langenhorn wohne. Sie hatte sein Verhalten oft als abweisend, manchmal auch als demütigend empfunden.
Schon die erste Krise kurz nach der Hochzeit war eine bedeutende Zerreißprobe, als sie auf sein Verlangen ihr Kunstgeschichtestudium aufgeben musste. Erst später gelangte sie zu der Ansicht, dass Kunstgeschichte auch gar nichts für sie war. Das Fach war sehr theoretisch, was sie sich eigentlich ganz anders vorgestellt hatte. Bei all dem Bestimmen und Erkennen und Systematisieren von Stilmitteln, Materialien und Arbeitstechniken war nur wenig Gelegenheit, in die Welt der Bilder und die Atmosphäre der Architektur einzutauchen. Etwas besser sah es in den Nebenfächern aus, Musikwissenschaft und Kunstpädagogik, aber wohl auch nur, weil in Nebenfächern nicht so zerstörerisch tiefe Sektionsschnitte in die Künstler und ihre Werke gesetzt werden mussten. In der Rückschau wäre für Judith eher die Arbeit mit Kindern das Richtige gewesen. Jan hatte das offenbar von Anfang an gewusst. Sie war jetzt auch überzeugt, dass er sich nur aus Hilflosigkeit in eine harte Schale geflüchtet hatte, weil er sie anders nicht hätte lenken können.
Er war aber auch nachsichtig mit ihr gewesen, jedenfalls wertete Judith es so. Zum Beispiel, als er einverstanden gewesen war, wie sie wegen seines Schnarchens getrennte Schlafzimmer vorgeschlagen hatte. Dabei hatte er anfangs fast täglich auf ihr geschwitzt, zum Schluss allerdings nur noch wöchentlich.
Sicher waren es auch nicht immer die romantischten und selbstlosesten Gefühle, die Jan für sie gehegt hatte. Anfangs hatte sie ihn bestimmt körperlich sehr angezogen. Stöhnende Triebe, nicht schmachtende Liebe. Es hatte auch Zeiten gegeben, in denen er sie fast ganz in Ruhe ließ. Judith war sich dann sicher gewesen, dass er eine Affäre hatte. Aber sie hatte es ignoriert, jedenfalls so gut es ging toleriert, weil sie glaubte, dass eine Frau damit zurechtkommen müsse, wenn ein Mann Abwechslung braucht. Was sie ihm geben konnte, war ständige Verfügbarkeit, und das gab sie ihm auch, schon aus Dankbarkeit. Sie war es ihm schuldig, das wusste sie sehr sicher.
Bei ihren Versuchen, die Demütigungen ertragen zu lernen, hatte sie nach ihrer eigenen Einschätzung weitgehend versagt. Im Cosmopolitan hatte sie den Rat gelesen, dass man es mit Humor, witzigen Situationen und Verführung versuchen solle, wenn der Mann nicht sensibel genug ist. Für Jan war das aber immer dümmliches Harmoniegesäusel und nuttige Kleidung gewesen.
Nein, für die Demütigungen war sie selbst verantwortlich und darum war es Verrat, wenn sie Jan deshalb verlassen wollte. Sie war Schuld an seinem Tod, nur sie.
Kurz vor Sonnenaufgang schlief sie ein.