Kieler Schein

Roman

288 S., Softcover, eBook, Gmeiner Verlag

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Kieler Schein - Leseprobe
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Kay Jacobs: Kieler Schein

 

Roman

 

Leseprobe

 

© 2022 - Gmeiner Verlag GmbH

 

 

I

 

 

»Ja, Vater«, sagte sie.

Vater musste sie ihn nennen, darauf bestand er. Seit Franzi vier Jahre alt war, durfte sie ihn nicht mehr mit „Papi“ anreden. Und wenn er richtig böse mit ihr war, sollte sie nichts anderes hinzufügen als „Ja“.

 

Heute war er richtig böse. Es war Sonntag, der 6. Mai 1900, der erste Sonntag im ersten Mai des neuen Jahrhunderts, ein besonderer Tag. Heute war Franzis siebzehnter Geburtstag.

Ganz früh am Morgen war sie heimlich zum Bauern nach Durchholz geradelt – von der Wohnung in der Bochumer Siedlung Stahlhausen eine Stunde hin und eine zurück – und hatte Rindfleisch besorgt. Es war nicht allzu teuer, ein halbes Pfund, nur für zwei Portionen; Franzi lebte mit dem Vater allein. Als er um neun aufstand – sonntags schlief er gern ein wenig länger –, war sie bereits zurück und hatte das Frühstück vorbereitet. Er gähnte, kratzte sich hinterm Ohr und setzte sich grunzend an den Küchentisch. Sie schenkte ihm Kaffee ein, frischen Bohnenkaffee, den es nur sonntags gab, und sagte, dass heute ihr Geburtstag sei. Er grunzte noch einmal und entschuldigte sich dafür, dass er kein Geschenk für sie hatte. Eine Stunde später war er zum Frühschoppen in der Trinkhalle, und sie bereitete das Mittagessen vor. Pfefferpotthast mit Salzkartoffeln und Rote Bete. Ein so feines Essen kochte sie nur selten, manchmal zu Weihnachten oder zu Ostern oder eben zu Geburtstagen, aber nur, wenn er auf einen Sonntag fiel. Das Rezept hatte sie aus dem „Praktischen Kochbuch“ von Henriette Davidis, das sie zu ihrem sechzehnten Geburtstag vom Vater geschenkt bekommen hatte; viele Mädchen bekamen es zum Geburtstag geschenkt, meist zum sechzehnten, oft auch zum achtzehnten. Als der Vater vom Frühschoppen zurückkam, brachte er ihr einen Strauß Maiglöckchen mit, den er auf dem Heimweg gepflückt hatte, wahrscheinlich in einem fremden Vorgarten. Als er in die Küche kam und in den Topf schaute, fragte er, ob das Rindfleisch sei, was da schmorte, und ob er wegen dieses verschwenderisch teuren Fleisches in der letzten Woche keinen Speck bekommen habe.

Nein, nicht deshalb, hätte Franzi antworten können, sondern weil er so knauserig mit dem Haushaltsgeld war. Doch das antwortete sie nicht. Seinen Geiz hielt sie ihm nicht vor. Er hatte seine Gründe. Eng war es immer gewesen, viel war nie übrig geblieben. Obwohl ein Hauch von Wohlstand durchs Land wehte, von Holz im Winter und Fleisch am Sonntag und Rente im Alter. Und dass der Bismarck das gemacht habe, hatte der Vater gesagt. Der Bismarck, nicht die Sozen oder der Kaiser, der Bismarck war’s. Und trotzdem reichte es nicht für Speck am Mittwoch, wenn es Fleisch am Sonntag geben sollte.

Zum Nachtisch servierte sie Vanillepudding, und zwar echten Pudding, nicht dieses Zeug aus Fertigpulver, sondern eine wahre Köstlichkeit aus Milch, Butter, Zucker, Mehl und Ei, aufwendig im Wasserbad gargezogen, garniert mit einer Apfelscheibe. Nur echte Vanille war nicht drin, das konnte man kaum bezahlen. Sie stellte die Schale dem Vater, der inzwischen nicht mehr grunzte – ein Zeichen von Anerkennung –, auf den Tisch. Als er mit seinem Löffel hineinstach, war der Zeitpunkt gekommen, den Franzi sich vorgenommen hatte, ihn mit ihrem Anliegen zu konfrontieren. Und so erdreistete sie sich zu fragen, ob sie auf die neue Reifensteiner Frauenschule in Obernkirchen gehen dürfe. Der Vater schaute auf, sein Interesse am Pudding war verflogen. Frauenschule, Obernkirchen, das ging natürlich nicht. Franzi hätte es wissen müssen, sie hätte erst gar nicht fragen sollen. Zum einen lag Obernkirchen fast zweihundert Kilometer von Bochum entfernt, zum anderen betrug das Schulgeld hundert Mark im Monat.

»Hundert Märker? Für was? Um putzen zu lernen?«

Um Hauswirtschaft zu lernen. Moderne Hauswirtschaft. Das war mehr als Putzen und Kochen. Und ihr Kochbuch, das „Praktische Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche mit besonderer Berücksichtigung der Anfängerinnen und angehenden Hausfrauen“ war mehr als nur ein Kochbuch. Es war die Idee von praktischen Einbauküchen, die nicht mehr jeden Tag umständlich gereinigt werden mussten, und von funktionalen Küchengeräten, von hauswirtschaftlicher Arbeitsteilung, von warmen Mittagsmalzeiten in Kindergärten und Schulen und – auch wenn es in diesem Buch nicht ausdrücklich drinstand – von der Frauenbewegung. Das sagte sie dem Vater. Sie hätte wissen müssen, dass er ihr nicht zustimmen würde, und im Grunde wusste sie es auch.

»Mumpitz«, sagte er.

Spätestens jetzt hätte sie sich zurückhalten sollen. Sie brachte es aber nicht fertig. »Ich will nicht enden wie Mutter. Ich will einen richtigen Beruf. Ich werde eine Siedlungsküche leiten oder eine Großwäscherei.«

Dem Vater fiel der Löffel aus der Hand und er donnerte mit der Faust auf den Tisch. Jetzt war er richtig böse. »Geh auf dein Zimmer!«, schrie er. Nicht so sehr die Flausen, die Franzi im Kopf hatte, regten ihn auf, sondern der Vergleich mit der Mutter. Franzi hätte es wissen müssen, und im Grunde hatte sie es gewusst. Sie hatte überdreht.

»Ja, Vater.«

 

Wie die meisten Werkswohnungen in der Siedlung hatten sie zwei Zimmer und eine große Wohnküche. Bis zum Tod der Mutter hatte Franzi bei den Eltern im Schlafzimmer geschlafen, und das andere Zimmer war als gute Stube reserviert gewesen und nur an Sonntagen benutzt worden oder wenn Besuch kam. Oder wenn die Mutter getrunken hatte und sich ausschlafen musste. Die Mutter hatte zu viel getrunken, und nach dem letzten Mal Ausschlafen war sie nicht mehr aufgewacht. Damals war Franzi noch ein kleines Mädchen gewesen. Als sie sich allmählich zu einer Frau entwickelte, ging es aber irgendwann nicht mehr an, dass sie mit dem Vater im selben Zimmer übernachtete, schon wegen der Nachbarn. Also wurde aus alten Paletten, die der Vater auf der Arbeit besorgt hatte, ein neues Bettgestell gebaut und vom Sattler eine moderne, dreiteilige, himmelweiche und unglaublich teure Matratze gekauft. Und Franzi hatte die gute Stube bekommen, ganz für sich allein.

Jetzt saß sie heulend auf ihrem Bett. So hatte sie sich den Geburtstag nicht vorgestellt. Es war ihre eigene Schuld. Ob der Vater die Mutter so geliebt hatte, wie ein Mann seine Frau lieben sollte, wusste sie nicht, und oft zweifelte sie daran. Aber er ließ nichts auf sie kommen. Trotz allem.

Als junger Mann war er aus Polen ausgewandert und ins Ruhrgebiet gezogen, weil es damals in Polen zu wenig Arbeit und im Ruhrgebiet zu wenige Arbeiter gegeben hatte. Er lernte die Mutter kennen, sie heirateten, sie führte ihm den Haushalt. Sie wurde schwanger, es kam zu einer Fehlgeburt. Sie wurde traurig. Er wurde grob und begann, sie zu schlagen. Sie begann, Kräuterlikör zu trinken. Sie wurde wieder schwanger, und Franzi wurde geboren. Der Vater war grob geblieben, und die Mutter war traurig geblieben. Wenn Franzi sich konzentrierte, konnte sie sich an ein Lächeln auf dem Gesicht der Mutter erinnern, aber sie musste sich sehr konzentrieren. Und dann erinnerte sie sich auch an die Stimme der Mutter, wenn sie ihr ein Gute-Nacht-Lied gesungen hatte, eine sanfte Stimme. „Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.“ Ihr Leben war also vom Willen des Herren abhängig. Doch das hatte sie nicht beunruhigt, sie vertraute dem lieben Gott. Sie vertraute auch der Mutter, und sie vertraute darauf, dass alles gut werden würde. In diesen Momenten hatte sie sich beschützt und sicher gefühlt. Es waren Franzis schönste Erinnerungen. Die häufigsten Erinnerungen aber waren, wenn die Mutter betrunken gewesen war. Eines Tages hatte Franzi nach der Schule nicht nach Hause gehen dürfen, sie hatte eine Woche bei einer Mitschülerin übernachten müssen. Die Mutter hatte sich auf dem Dachboden aufgehängt.

Franzi wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Es war nicht richtig, den Vater mit ihren hochtrabenden Wünschen zu belasten. Sie schaute auf, aus dem Fenster, konnte den Schornstein der Kokerei sehen, wo der Vater malochte, dahinter die Hochöfen der Hütte. Zuerst war er Kumpel gewesen, auf der Zeche Präsident, und jeden Tag in den Schacht Anton eingefahren. Nach einer Schlagwetterexplosion war er tagelang verschüttet, danach träumte er jede Nacht von Luft mit neun Komma fünf Prozent Methan und brachte es nicht mehr fertig, in den Schacht einzufahren. Er wechselte zur Kokerei der Zeche, nur ein paar Schritte von Schacht Anton entfernt, und wurde zum Rampenzieher, später zum Vorarbeiter, vor einem Jahr war er Gasmeister geworden.

Eigentlich hatte Franzi ihn lieb. Er hatte es nicht leicht gehabt mit der Mutter, und mit ihr hatte er es auch nicht leicht. Und er hatte sie bestimmt auch lieb, nur konnte er Gefühle nicht so zeigen. Als kleines Mädchen hatte sie einmal angefangen zu weinen, nachdem sie auf die Knie gefallen war, und der Vater hatte sie angebrüllt, sie solle sich nicht so anstellen. An Lob konnte sie sich kaum erinnern. Die größte Anerkennung, die sie von ihm erhoffen konnte, war das Unterlassen von Kritik. Die größte Missbilligung waren Schläge, die manchmal dazu geführt hatten, dass Franzi am nächsten Tag wegen einer Grippe die Schule nicht besuchen konnte. Natürlich wurden Kinder von ihren Eltern regelmäßig geprügelt, aber so sehr dann doch nicht. Als im Turnunterricht einmal blaue Flecken auf ihrem Rücken aufgefallen waren, sagte sie, dass sie zu Hause die Treppe hinuntergefallen sei. Den Vater zu beschuldigen, war für sie völlig unvorstellbar gewesen, nach dem Tod der Mutter noch unvorstellbarer als vorher.